Thomas Frantz ist Schachboxer, Flaneur aus Instinkt, freier Journalist ohne Aufträge. Die Motivation, dem Leben noch eine feste Struktur abzuringen, ist begrenzt. Frantz lässt sich durchs Großstadtleben treiben, von den Kabbalisten zu schlaflosen Swingern, von der Demo der Prekarianer in die Wettbüros Neuköllns und den alten Westen, der wortwörtlich abkackt. Unbarmherzig kommentiert er, was er sieht: das Heer derer, die sich mit Diplom und Aushilfsjobs direkt in die internationalen Märkte hineinträumen und dabei in Streetart, Esoterik und Pecha-Kucha-Nächten einen Rest von Lebenssinn suchen. Er recherchiert die Geschichte der ehemaligen SED-Verwaltungszentrale, zuvor Hauptquartier der Hitlerjugend und davor Kaufhaus jüdischer Geschäftsleute, die von Londoner Heuschrecken mit großzügiger Ignoranz gegenüber den Grausamkeiten der Geschichte in einen Society-Club und Wellnesstempel umgebaut wird. Wie Berlin überhaupt zu einem gewaltigen Spielplatz mutiert ist und sich aufteilt in Zonen von Invitrokindern und verwahrlosten Jugendlichen. Frantz, der notorische Chronist, seziert mit wachsender Wut, was ihn tagtäglich an Lügen umgibt. Als schließlich die bezaubernde junge Doktorandin Sandra durch sein Leben fegt wie der Hurricane Katrina, könnte alles noch einmal anders werden. Mit brillanter fragmentarischer Ästhetik, in scharfsinnigen und grotesken Miniaturen beschreibt Gehwegschäden die schleichende, gewaltige Veränderung einer Gesellschaft, in der gradlinige Lebensgeschichten längst der Vergangenheit angehören. Mit literarischen Vorbildern wie Döblins Berlin Alexanderplatz und Musils Der Mann ohne Eigenschaften nimmt es dieses Buch mit einem Thema auf, das keine klassische Form mehr zulässt, und das evident wird in einer Stadt, in der die auf Gehwegschäden hinweisenden Schilder an jeder Ecke zur Normalität geworden sind: Es wird hier nichts mehr repariert, wir haben uns abgefunden.
About the author
Helmut Kuhn, geboren 1962, studierte Geschichte und Publizistik in Berlin und Paris. Er arbeitete bei der deutschjüdischen Zeitschrift Aufbau in New York und lebt heute als freier Journalist und Autor in Berlin. Helmut Kuhn schreibt u.a. für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Neue Zürcher Zeitung, Stern, Focus und mare. 2002 erschien sein vielbeachtetes Romandebüt Nordstern. Als Co-Autor verfasste er zusammen mit Murat Kurnaz Fünf Jahre meines Lebens. Ein Bericht aus Guantanamo (2007), über den John Le Carré schrieb: ‘Der mitfühlendste, ehrlichste und würdevollste Bericht über die Schande Guantanamo, den es je gegeben hat.’