Was man in der alteuropäischen Metaphysik ‚das Wesen‘ des Menschen genannt hat, ist historisch zugrunde gegangen. Die Spezifik des Menschen wurde in seiner dualistischen Aufspaltung, entweder Seele oder Körper zu sein, und in seiner monistischen Auflösung, ganz Natur oder Geist zu sein, verfehlt. Gleichwohl sind wir alle in unserem Common sense praktisch der Frage ausgesetzt, wie wir die natürlichen, sozialen und kulturellen Aspekte unserer Existenz in der Führung eines menschlichen Lebens sinnvoll berücksichtigen können. Die neuen Reproduktions-, Umwelt-, Kommunikations- und Sozialtechnologien werfen täglich die Frage auf, was es heißt, als vergleichbare Person und als Individuum ein menschliches Leben zu führen. Die ‚Philosophische Anthropologie‘ (Helmuth Plessner) hat die Spezifik menschlicher Phänomene naturphilosophisch als eine Besonderheit im Spielverhalten höherer Säugetiere erschlossen. Im Spielen kann Verhalten von seinem ursprünglichen Antrieb abgelöst und an einen neuen Antrieb gebunden werden. Dies gelingt seitens des Organismus um so besser, je rückbezüglicher seine zentrische Form (Gehirn) der Selbstreproduktion wird. Dadurch entsteht aber eine Ambivalenz in den Zentrierungsrichtungen des Verhaltens, nämlich spontan aus der leiblichen Funktionsmitte des Organismus heraus oder von den körperlich möglichen Funktionsmitten der Umwelt her. Diese Ambivalenz bedarf zur Stützung entsprechender soziokultureller Lösungsformen, in denen sie lebbar verschränkt werden kann. Wer – wie z. B. Kinder – spielt, lebt in der Differenz, sein Verhalten verkörpern (von einem Zentrum außerhalb des eigenen Leibes her koordinieren) und verleiblichen (auf seinen eigenen unvertretbaren Leib hin zentrieren) können zu müssen. Die (kategorische) Not solcher Lebewesen, ihre beiden Zentrierungsrichtungen ausbalancieren zu müssen, kann aber auf kontingente Weise (konjunktivisch) befriedigt werden. Dieser ‚Kategorische Konjunktiv‘ (Plessner) der Lebensführung macht Menschen einer geschichtlich zu erringenden soziokulturellen Natur bedürftig. Im ersten des auf zwei Bände konzipierten Werks wird Plessners ‚Kategorischer Konjunktiv‘ als ein Spektrum menschlicher Phänomene vorgeführt, in denen sich unsere verschiedenen leiblichen und körperlichen Sinne zu einer Funktionseinheit verschränken. Der Zusammenhang unserer Sinne ergibt sich daraus, daß jeder Mensch lebensgeschichtlich eine soziokulturelle Elementarrolle spielt. Dank dieser kann man sich personalisieren (vergleichbar werden) und im Unterschied zu ihr individualisieren. Das Schauspielen der Rolle gerinnt in Ausdrucks-, Handlungs- und Sprachformen, unter denen die westliche Modernisierung höchst einseitig solche der Selbstbeherrschung durch Selbstbewußtsein ausgezeichnet hat. Das Ausspielen der Rolle findet aber seine Verhaltensgrenzen in Phänomenen ungespielten Lachens und Weinens, in denen die Zuordnung zwischen Individuum und Person nicht mehr gelingt. Das Eingespieltsein zwischen sich als Person und Individuum kann im ungespielten Lachen zu mehrsinnig oder im ungespielten Weinen sinnlos werden. Die soziolkulturell zu bestimmter Zeit anerkannten Rollen werden aber individuell durch Süchte und Leidenschaften und geschichtlich durch kulturelle Entfremdung der Nachwachsenden und gesellschaftliche Öffnung der Gemeinschaftsformen wieder aus der Balance gebracht. Daraus resultiert das Problem der geschichtlichen Selbstermächtigung von Individuen und Generationen. Plessners neue Konzeption souveräner Formen von Macht, die aus der Relation zur eigenen Unbestimmtheit zu gewinnen sind, und im Hinblick auf die moderne Emanzipation der Macht für plurale Gesellschaften als Minima moralia erörtert. In den Verhaltensgrenzen des angespielten Lachen und Weinens werden wir uns unbestimmt. Wer diese Grenzen überschreitet, begeht der Möglichkeit nach Unmenschliches.
Inhaltsverzeichnis
Aus dem Inhalt: 1. Die Frage nach dem Sinn der Sinne: seine negative Einheit 1.1. Plessners Projekt einer ‚Anthropologie der Sinne‘ 1.2. Inter- und intramodale Lektionen aus den modernen Künsten 1.3. Naturwissenschaftliche Zugänge: Frequenzen, Gestalten, funktionales und Ausdrucks-Verhalten 1.4. Verhaltenswissenschaftliche Komparatistik: das Spielverhalten der Säuger und die Verhaltensspiele des Homo ludens 1.5. Die Propriozeption im Schau-, Greif-, Hör- und Liebes-Spiel: Zwischen Leib-Sein und Körper-Haben 2. Zwischen Lachen und Weinen I: Die Individualisierung der Persona 2.1. Masken und die Rolle der Rollen: die Grenze zwischen milieu interne und milieu externe 2.2. as Spielen der Körper-Leib-Differenz mit und in der Elementarrolle: zwischen der Symbolik des Eigennamens und den Zeichen der Vertretbarkeit 2.3. Variables Gestalten in der Persona: Mimik und Gestik, Handeln und Sprechen 2.4. Spielen mit der Persona: individuell bedingte Süchte und Leidenschaften 2.5. Zwischen Lachen und Weinen als spezifisch menschliche Verhaltensgrenzen: das Lächeln der Souveränität 2.6. Unmenschliches jenseits von Lachen und Weinen: Das Unbedingtwerden der personae, Süchte oder Leidenschaften 2.7. Individuum ineffabile 3. Zwischen Lachen und Weinen II: Die Personalisierung des Individuums 3.1. Die Grenze zwischen privater und öffentlicher Person: Kulturgeschichte der Scham und Exhibition 3.2. Der individuelle Unterschied der Austauschbarkeit: Die Differenz zwischen achieved status und ascribed status 3.3. Sakratisierung und Profanisierung oder Traditionalisierung und Funktionalisierung 3.4. Das Balanceproblem zwischen den Formen der Vergemeinschaftung und denen der Vergesellschaftung des Individuums 3.5. Die kulturelle Entfremdung der Nachwachsenden und ihr geschichtlicher Selbstausdruck 3.6. Zwischen Lachen und Weinen in einer geschichtlichen Mitwelt: der Übergang von der Tragikomödie zum Trauer- und Lustspiel 3.7. Jenseits von Lachen und Weinen mit einer geschichtlichen Mitwelt: die verschiedenen Arten der Hybris 4. Die Souveränitätsfrage in der Ermächtigung zu geschichtlichem Tun 4.1. Zwischen Geschichte machen und sie erleiden: die übliche Machtfrage im Verhältnis von einem selbst zu anderen 4.2. Souveränität im Verhältnis zur eigenen Unbestimmtheit: Eröffnung des Mediums der Geschichtlichkeit 4.3. Eine selber geschichtliche Lektion: Die unmenschliche Verkehrung des europäischen Potentials der Deutschen 4.4. Die gesellschaftliche Emanzipation der Macht: zwischen Singularisierung und Pluralisierung 4.5. Die Aufgabe der Minima moralia am Ende des Jahrhunderts: Die Mediatisierung und Reproduktion der Körper als Leib 4.6. Das Wunder des Menschen: Lache Bajazzo
Über den Autor
Hans-Peter Krüger ist Professor für Politische Philosophie und Philosophische Anthropologie an der Universität Potsdam.