Handelte es sich bei Imre Kertész‘ berühmtem «Galeerentagebuch» um eine bewußte Komposition seiner jahrzehntelangen Aufzeichnungen, bilden die Tagebücher 2001–2009 ein unbearbeitetes, ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit gedachtes «journal intime» von überraschender, oft verstörender Offenheit. Es umfaßt die Jahre seiner «äußeren» Emigration – die Loslösung von Ungarn, dessen postsozialistische Entwicklung ihn immer stärker an präfaschistische Zeiten erinnert, und die Niederlassung in der Wahlheimat Berlin, wo ihn 2002 die «Glückskatastrophe» des Nobelpreises ereilt.
Zwar weiß er das damit verbundene «rare Geschenk guten Lebens» durchaus zu genießen, doch die Klage über die Anforderungen des Ruhms grundiert von nun an die Aufzeichnungen, verbindet sich mit der Klage über den «Terror des Alters» und das Nachlassen der Schaffenskraft. «Trivialitäten-Tagebuch» nennt er das Diarium schließlich. Von der gewohnten Schärfe seiner zeitdiagnostischen und ästhetischen Reflexionen, der Prägnanz der Momentaufnahmen verliert es freilich nichts.
Leitmotiv bleibt das Schreiben, das Ringen um die Gestaltung der in diesen Jahren entstehenden Prosawerke «Liquidation» und «Dossier K.» sowie des geplanten Sonderberg-Romans. Schreiben ist für Kertész die Legitimation seines Lebens. Als Krankheit und Schmerzen dominieren, macht er sich mit unerhörter Kühnheit zum Chronisten des eigenen Verfalls «im Vorzimmer des Todes».
Über den Autor
Kristin Schwamm, geboren 1953 in Altenburg, 1984-1989 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Göttingen, seit 1989 freiberufliche Übersetzerin aus dem Ungarischen (Imre Kertész).