Hamburg, das scheint aus Berliner Perspektive heute nur noch schwer vorstellbar, war zur Erzählzeit, den frühen Neunzigerjahren, das popkulturelle Zentrum Deutschlands. Hier saßen die wichtigen Verlage und Werbeagenturen, die es damals tatsächlich noch gab. Vor allem aber die Musikindustrie – und unterhalb dieser Corporate Culture war in St. Pauli aus dem Erbe von Hafenstraße, Punk und Roter Flora eine die deutsche Musiklandschaft prägende Subkultur entstanden: die sogenannte Hamburger Schule. Radikal feministische Diskurse, Gender Trouble, Riot Girls und die ständige Sorge, wie man von Hamburg aus mit kulturellen Mitteln dem wütenden Mob in der ehemaligen DDR, zwei Jahre nach dem Mauerfall, begegnen könnte; also all das, worum es in der Berliner Republik 27 Jahre
später noch immer geht. Im Hamburg der frühen Neunziger wurde all dies bereits durchlebt – und ausgiebig diskutiert. Die Bilder, die Christian Werner in einem Visual Essay beiträgt, zeigen beide Seiten dieser Stadt: das bürgerlich-saturierte der libertären Hanse und das harte Pflaster des Milieus; das ist der Humus, auf dem einst, es ist noch gar nicht lange her, eine der wichtigsten kulturellen Strömungen des 20. Jahrhunderts entstanden ist.
Über den Autor
Joachim Bessing, 1971 in Bietigheim am Neckar geboren, wurde bekannt mit seinen Kolumnen und zahlreichen Büchern, darunter Tristesse Royale, Rettet die Familie! und Untitled. Er lebt als Autor und Übersetzer in Berlin. Bei Matthes & Seitz Berlin erschien Bonn. Atlantis der BRD (2019) mit Christian Werner.
Christian Werner, 1977 in Paderborn geboren, lebt in Berlin. Er fotografiert für internationale Magazine wie 032c, Ssense und Numéro. Im Kerber Verlag erschien der Bildband Stilleben BRD und gemeinsam mit Paul-Philipp Hanske bei Suhrkamp Die Blüten der Stadt.