Der Privatphilosoph und Abkömmling einer baltischen Adelsfamilie Hermann Graf Keyserling war nach dem Ersten Weltkrieg enteignet worden und setzte sich in der Folge engagiert für eine Verbesserung der Verhältnisse ein, was nach seinem Verständnis bedeutete: Ein neuer Obrigkeitsstaat, keine parlamentarische Demokratie. Keyserling bewunderte Thomas Mann, was von diesem zwar nicht in der gleichen Weise erwidert wurde, dennoch war Keyserling ab dem Herbst 1919 mehrfach zum Tee in der Poschingerstraße eingeladen. Insbesondere sein Essay ›Was uns not tut, was ich will‹ entsprach in großen Teilen auch Manns politischer Haltung und bot diesem damit sogar die Gelegenheit für eine inhaltliche Korrektur der sich allzu monarchistisch und patriotisch entwickelnden Rezeption seiner ›Betrachtungen eines Unpolitischen‹ (1918). Insofern kann der offene Brief an Keyserling auch als eine Art Nachwort der ›Betrachtungen‹ gelesen werden. Mann verfasste ihn um den Jahreswechsel 1919/1920 herum und veröffentlichte ihn in der Zeitschrift Das Tage-Buch vom 31. März 1920.
Über den Autor
Thomas Mann, 1875–1955, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Mit ihm erreichte der moderne deutsche Roman den Anschluss an die Weltliteratur. Manns vielschichtiges Werk hat eine weltweit kaum zu übertreffende positive Resonanz gefunden. Ab 1933 lebte er im Exil, zuerst in der Schweiz, dann in den USA. Erst 1952 kehrte Mann nach Europa zurück, wo er 1955 in Zürich verstarb.