Wer an Revolutionen denkt, hat »Die Freiheit führt das Volk« von Delacroix vor Augen. Johannes Grave wirft einen neuen Blick auf das Gemälde und zeigt, wie Bilder Freiheit erfahrbar machen können.
Dem Gemälde »Die Freiheit führt das Volk« ist eine merkwürdige Ambivalenz eigen. Einerseits hat sich Eugène Delacroix’ Bild als affirmative Ikone der Julirevolution von 1830 im kollektiven Gedächtnis festgesetzt. Andererseits ist seine frühe Rezeption kontrovers und keineswegs vorbehaltlos enthusiastisch. Den Weg zu einem besseren Verständnis dieser Zwiespältigkeit kann die auf den ersten Blick überraschende Idee eines zeitgenössischen Kunstkritikers bahnen: Als Gustave Planche 1831 den besonderen Wert des Gemäldes zu begründen versuchte, betonte er, dass dessen Qualität erst nach längerer Betrachtung hervortrete.
Wie ändert sich der Blick auf das Bild einer Momentaufnahme, wenn es lange angeschaut wird? Was folgt daraus, wenn Delacroix – der Lessings »Laokoon« aus eigener Lektüre kannte – einen Moment der revolutionären Dynamik stillstellt? Und wie verhält sich das Bild dabei zu seinem zentralen Thema: der Freiheit? Am Beispiel von Delacroix’ Gemälde lässt sich nachvollziehen, wie Freiheit – über konventionelle allegorische Darstellungen hinaus – durch die dem Bild eigene Zeitlichkeit auf einzigartige Weise greifbar werden kann.
A propos de l’auteur
Johannes Grave, geb. 1976, ist Professor für Neuere Kunstgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er arbeitet über die Kunst der Romantik, Malerei der Frühen Neuzeit in Italien und Frankreich sowie bildtheoretische Fragen. Für seine Forschungen wurde er 2020 mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ausgezeichnet. 2023/24 war er externer Kokurator der Hamburger Ausstellung »Caspar David Friedrich. Kunst für eine neue Zeit«.
Veröffentlichungen u.a.: Bild und Zeit. Eine Theorie des Bildbetrachtens (2022); Giovanni Bellini. Venedig und die Kunst des Betrachtens (2018); Caspar David Friedrich (2012, 2. Aufl. 2022).