Seit ihrer (Wieder-)Entdeckung in der Frühen Neuzeit gibt es ein wiederkehrendes Urteil über die Zentralperspektive: Sie ist ein Herrschaftsinstrument zur Unterwerfung der Umwelt von einem einzigen Punkt aus; sie ist ein Wahrnehmungsmodell, das sich rein auf das berechenbare Außenbild der Dinge beschränkt; und sie hängt systematisch mit dem cartesianischen Subjektentwurf zusammen, der die narzisstischen Selbstermächtigung des europäischen Menschen mit all ihren verheerenden Folgen einleitete. Letztlich wird seit Leonardo da Vinci, der Ende des 15. Jahrhunderts die ‘Einäugigkeit’ perspektivischer Gerätschaften beklagte, an der Überwindung des zentralperspektivischen Paradigmas gearbeitet – auch und gerade auf dem Theater, dessen Guckkastengeschichte ohne die Mittel der Perspektive nicht denkbar gewesen wäre. Im ‘polyperspektivischen’ 21. Jahrhundert erscheint die Zentralperspektive vollends als eine Angelegenheit der Vergangenheit.
In einem großangelegten, psychoanalytisch inspirierten Versuch fragt Sebastian Kirsch hingegen nach dem, was an dieser ” Verabschiedung nicht stimmt: Warum werden Versuche, ein Jenseits von Perspektive und Subjekt zu behaupten, regelmäßig von dem eingeholt, was sie hinter sich lassen wollen? Was arbeitet in der Matrix der Perspektive als ein traumatischer Kern oder als ein ‘Reales’ (Lacan), sodass sie offenbar immer wieder aufs Neue verabschiedet werden muss? Inwiefern tragen sich gegenwärtige politische und ästhetische Entwicklungen nach wie vor in sie ein? ‘Das Reale der Perspektive’ zeichnet ein beeindruckendes kulturtheoretisches Panorama, das sich zwischen Lohenstein und Lacan, Dürer und Deleuze, Shakespeare und Benjamin, Galilei und Cronenberg erstreckt und die barocke Schwellenzeit um 1600 mit dem Übergang vom 20. zum 21. Jahrhunderts überblendet.
विषयसूची
Kapitel I: Das Untote in der Kultur
1.1. Die Vermessung der Hölle, oder: Die Idioten der Präzision 1.2. Tassos Studierstube, oder: Brei und Wortgerümpel 2.1. Ein Nichts, welches für etwas gehalten werden will 2.2. Barocker Zickzack
2.3. Das Automaton des Barock 3.1. Benjamins souveräner Veitstanz 3.2. Vertigo und Vertiko 4. Benjamin, Lacan, Deleuze: Narziss ± Ikarus Kapitel II: Die Spaltung im Sichtbaren als optische Falte
Weniger und mehr als zwei 1.1. Der Schwerpunkt des Universums 1.2. Ein vollständiges Verständnis der Hölle 1.3. Raumordnung und Lichtordnung 1.4. Das geometrale Dreieck 2.1. Blinde Apparaturen 2.2. Das visuelle Dreieck, oder: Der Barock existiert nicht 3.1. Der Analytiker als Konserve 3.2. Die Doppelfunktion des Blicks 3.3. Zur Spaltung von Auge und Blick 3.4. Schizophrenie und Paranoia 4.1. Die Faltung im Sichtbaren I: Zur Anamorphose 4.2. Die Psychoanalyse am Rand der Melancholie 5. Die Faltung im Sichtbaren II: Zum Spiegel Ausblick: RSI Kapitel III: Maßnahmen 1604
1.1. Zwei Typen von Souveränität Seite
1.2. Das Subjekt als Schattenzeichner Seite 2. Einige Anmerkungen zur elisabethanischen Bühne 3.1. Maß für Maß 3.2. Angelos Gartenarbeit 3.3. Der Engel und die Münze, oder: Die Geburt des Blicks 3.4. Der Herzog als Anamorphotiker 4. Der 0. Januar. Maß für Maß und die doppelte Buchhaltung 5.1. Die Falte, der Phallus, der Vater. Zum Problem der Genealogie 5.2. Dieses obskure Subjekt der Begierde 5.3. Wucherndes Aas. Shakespeare, Lacan, Cronenberg 6. Postmoderner Absolutismus Kapitel IV: Zerstückelungen und Entstellungen
Zerstreute Glieder
1.1. Quevedos Großes Weltgericht 1.2. Höllenpastete 2. Gargantua und Pantagruel 3.1. Die Falten der Haut 3.2. Körperwissen, vor und nach 1600 3.3. Jenseits des Signifikanten?
Ausblick: Vom Körper zur Sprache Kapitel V: Traumsprache und Spiegelzeichen
Vom Bildbarock zum Wortbarock
1.1. Träumen oder Wachen?
1.2. Einschlafen als Umfaltung 2.1. Agrippina: Von Freud zu Lohenstein und zurück 2.2. Deutsche Alpträume, oder: Die unregulierte Mutter 2.3. Ein Plädoyer für den Inzest 3.1. Barockes Traumtheater 3.2. Der Autor als Träumer 3.3. Traum und Allegorie 4. Der Traumtext als Vorhang, oder: Zur Frage des ‘dahinter’ 5.1. Zur Metonymie 5.2. Kontextualität und Ähnlichkeit 6. Zur Metapher Ausblick: Linguisterie und Lalangue Kapitel VI: Barocke Räume
Vom Traum zum Raum
1.1. Das Leibniz-Universum und die Selbstähnlichkeiten 1.2. Ein anamorphotischer Küstenspaziergang 2.1. Substantielle, absolute und relative Räume 2.2. Räume und Bühnen 2.3. Andrea Pozzo, oder: Zwischen Struktur und Topologie 3.1. Relative Zeiten 3.2. Zeit des Werdens 4. Monaden 5.1. King Lear 5.2. In eine Nacht hinein, die furchtbar wird 5.3. Vom Abschluss der Analyse Postskriptum 1
1. Panopticon Writings
2. Ineinandergeschobene Dreiecke Postskriptum 2
Barockes 20. Jahrhundert
1.1. Die kleinste Größe, oder: Brecht mit Descartes 1.2. Mann ist Mann, oder: Die Vorteile des Schemas 2.1. Der Brotladen 2.2. Brechts Auftrag
Literatur
1. Literatur und Quellen der Frühen Neuzeit
2. Sonstige behandelte und zitierte Primär- und Quellenliteratur
3. Weitere verwendete Literatur
4. Psychoanalytische Literatur oder Literatur mit besonderer psychoanalytischer
लेखक के बारे में
Theaterwissenschaftler, Redakteur von Theater der Zeit und Mitarbeiter am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Weitere Arbeitsschwerpunkte: Theorie des Politischen, Genderpolitik zur Zeit der Französischen Revolution, das Verschwinden des 20. Jahrhunderts. Weitere Publikationen: Notizen zum gestischen Schreiben, in: Weimarer Beiträge (2006/1), Müllers barockes Schreiben, in: Heeg, Günther (Hg.): Theatrographie Heiner Müller (2009).