Essay aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Orientalistik / Sinologie – Allgemeines u. Übergreifendes, , Sprache: Deutsch, Abstract: Es ist staunenswert, wie in den letzten zwei Jahrzehnten das Wissen über die tibetische Kultur, insbesondere den tibetischen Buddhismus bei uns im Westen zugenommen hat. Insofern mag es etwas befremden, an dieser Stelle eine Frage zu stellen, deren Beantwortung jedem Tibet-Interessierten als etwas Selbstverständliches erscheint: Wer sind die Tibeter? Die Berechtigung dieser Frage wird allerdings schnell deutlich, wenn wir ein Gegenüber auffordern, uns einmal die Kriterien zu nennen, über welche er die Tibeter definiert. Sehr schnell landen wir dabei bei den gängigen Klischees, die sich um so mehr perpetuieren, je mehr die Klischee-behafteten Sprecher selbst unter sich bleiben und die öffentlichen Äußerungen, Veröffentlichungen und Darstellungen über die Tibeter bestimmen. Daran ändert sich auch wenig, wenn wir bedenken, dass auch Tibeter selbst, insbesondere jene im Exil, sich dieses im Westen geschaffene Bild teilweise angeeignet haben. Dass sie daraus neue Inhalte schaffen und diese weiterentwickeln, mag hinwiederum als schöpferischer Akt anerkannt werden, der letztlich zur Herausbildung einer spezifischen Identität der Tibeter im Exil führen mag. Häufig wird vergessen, wie komplex eine Kultur ist, so vielschichtig, dass sie zu überblicken selbst einem Angehörigen der betreffenden Kultur gelegentlich nicht mehr gelingt. Um wieviel mehr trifft dies auf Außenstehende zu. Nehmen wir einmal am Buddhismus Interessierte: Schon ihrem Anliegen nach beschränken sie sich auf einen, wenn auch wesentlichen Aspekt der tibetischen Kultur – die buddhistische Religion. Nun hat diese Religion sehr unterschiedliche Aspekte, die von der Lehrdarlegung des historischen Buddha über die komplizierten philosophischen und spirituellen Inhalte des esoterischen Buddhismus bis hin zur volksreligiösen Gedankenwelt reicht, deren magisch-mystische Inhalte stark von frühtibetischen und damit nichtbuddhistischen Vorstellungen geprägt sind. Das Interesse des westlichen Sinnsuchers, der zumeist von den hochgeistigen, spirituellen Inhalten des tibetischen Buddhismus fasziniert ist, an diesen vorbuddhistischen Vorstellungen ist eher beschränkt; ebenso begrenzt ist seine Aufmerksamkeit gegenüber der historischen, gesellschaftlichen und politischen Dimension dieser Zivilisation. Ein allgemeineres Verständnis dessen, was die tibetische Kultur bedeutet und wer die Tibeter sind, ergibt sich aus diesem religiös motivierten Interesse daher kaum. […]
Circa l’autore
From 2004 to 2012 Andreas Gruschke was a postdoc researcher at the Collaborative Research Centre SFB 586 “Difference and Integration”, affiliated to the University of Leipzig and to the Helmholtz-Centre for Environmental Research – UFZ. He earned a doctorate in Development Geography at the University of Leipzig (2009). He worked as a scientific employee at the Oriental Institute of Leipzig University with expertise in social geography, development geography, anthropology and Sinotibetan studies.
His research fields include: social and cultural geography of China and Tibet, socio-economic transformations and livelihood security of nomadic societies under conditions of social, political and ecological change, vulnerability and livelihood security of rural areas in Western China, sustainable development and assessment of political interventions in rangeland areas.
At present, Andreas Gruschke is an affiliated guest professor at Sichuan University, working at the Institute of Social Development & Western China Development Studies in Chengdu, China.