Adornos prägnante Aussage, ‘wir mögen nicht wissen, […] was […] das Menschliche und die Humanität sei, aber was das Unmenschliche ist, das wissen wir sehr genau’, hinterlässt den Eindruck, seine Philosophie beinhalte keine anthropologischen Prämissen und eine wahre Kenntnis über das Menschsein dürfe sich nur in der Auseinandersetzung mit bestehenden Missständen entfalten. Die vorliegende Arbeit stellt eine Erwiderung auf das Adorno seit langem unterstellte Theoriedefizit dar. Von einer psychoanalytischen Interpretation des ‘Leidens’ ausgehend rekonstruiert die Autorin einen bislang ignorierten anthropologischen Ansatz Adornos, der mit seinem eigenen Ausdruck als ‘Denkpsychologie’ bezeichnet werden kann. In dem Bezugsahmen der Denkpsychologie zeigt sich, dass Adorno sämtliche geistigen Operationen als unbewusste mentale Vorgänge betrachtet: Sei es das normative Urteil, seien es die intersubjektive Kommunikation oder die sinnliche Wahrnehmung– alle diese Formen der Rationalität setzen das gleichermaßen rezeptive wie triebhafte Wesen der Psyche voraus. Der an der Psychoanalyse orientierte erkenntnis-psychologische Ansatz eröffnet somit eine verborgene Innenperspektive, die in sämtliche Aspekte von Adornos Philosophie zurückwirkt.
About the author
Ming-Chen Lo, National Taiwan University, Taipei.