Zu den wenigen unumstößlichen Gewissheiten in der Philosophiegeschichtsschreibung zählt die Lehrmeinung, Descartes sei der Ahnherr des philosophischen Rationalismus, also einer Philosophie, die der sinnlichen Erkenntnis misstraue und einzig aus von der Vernunft intuitiv erkannten ersten Prinzipien alle weiteren Kenntnisse mit mathematischer Sicherheit deduziere. Die Anschauung habe seither als eigenständiges Erkenntnisorgan ausgedient, Bilder wurden in der Philosophie liquidiert. Schaut man jedoch nicht nur in die wenigen Texte, auf denen das klassische Descartes-Bild basiert, stellt man mit Verwunderung fest, dass Descartes weit mehr als jeder andere Philosoph der Frühen Neuzeit Bilder zur Unterstützung seiner Argumentationen eingesetzt hat. Diese Bilder sind weitgehend unbekannt. Ausgehend von Descartes’ ästhetischer Frühphilosophie, werden in der vorliegenden Arbeit zunächst die rhetorischen Muster und kognitiven Ansprüche von Descartes’ Metaphern und der Traumerzählung analysiert. Vor diesem Hintergrund werden dann die Entwicklungen und Transformationen ästhetischer Konzepte in ihrer jeweiligen Funktion für seine Naturphilosophie aufgezeigt. Descartes legt u. a. seine Schriften als Schule des Sehens an und versucht, die Imagination des Lesers zu kontrollieren und zugleich Naturphänomene bildhaft zu konzeptualisieren. Die Modi der Erfahrung und die Weisen der Erklärung werden durch die Bilder erweitert und neu konzipiert. Dadurch verändert und erweitert sich nicht zuletzt auch Descartes’ Verständnis von Deduktion und Methode. In manchen Fällen lässt sich sogar zeigen, dass die Abbildungen die Argumentationen Descartes nicht nur unterstützten, sondern sogar erst ermöglichen.
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EINLEITUNG I. TEIL: MIRABILIS SCIENTIAE FUNDAMENTA. VON DER WUNDERBAREN WISSENSCHAFT ZUR WISSENSCHAFT DER WUNDER (1619-1628) 1. Die Philosophie des jungen Descartes 2. Eine Ur-Szene der Moderne 3. Von den Träumen der Vernunft. Traum, Einbildungskraft und Erkenntnis beim jungen Descartes 3.1. Kurzer Exkurs zur admiratio 3.2. Traum, Prophetie und Rhetorik der Konversion 4. Scientia mirabilis: mathesis oder sapientia universalis? 4.1. ‘Saltem per imitationem’ 4.2. ‘Acracked brain man, an Enthusiast’ 5. Figuren der Ähnlichkeit 6. Methode und Gedächtnis: ‘clavis totius mysterii’ 7. Das Ordnen als ars zur Vorbereitung der intuitiven Erkenntnis 7.1. ‘In der Phantasie gemalte Bilder’ 7.2. Aufmerksamkeit 7.3. Ingenium und Phantasia 7.4. Die Falten des Gedächtnisses 8. Wissenschaft der Wunder 8.1. Automaten und andere ‘kunstfertige Trugwerke’ 8.2. Zeichenmaschinen 8.3. ‘Ex imitatione cabbala germanorum’. Descartes im Zeichen des Rosenkreuzes II. TEIL: DESCARTES‘ ARTISTENPHILOSOPHIE (ÜBERGÄNGE UND TRANSFORMATIONEN DES ÄSTHETISCHEN FRÜHWERKS) Einleitung 1. Darstellungsformen 1.1. Theatrum philosophicum 1.2. Das Leben als Gemälde, die Philosophie als Roman 1.3. Der Diskurs als Form 1.4. Der Verstand als Maler 2. Schlußformen 2.1. Intuition- Deduktion / Disposition-Deduktion 2.1.1. Denken und Sticken. Die Ausbildung des Spürsinns 2.1.2. Indirekte Kausalitäten 2.1.3. Apriori-Deduktionen? 2.2. Maschinen, Monster und Mörder: Zur Reichweite mechanistischer Erklärungen bei Descartes 2.2.1. Artefacta und Ficta 2.3. Weisen der Welterzeugung (1): Perspektivenwechsel, Projektion, Analogie und Deduktion 2.3.1. Himmelskörper und menschliche Körper im Fluß. Analogien zwischen Kosmogonie und Embryologie 2.3.2. Liaisons dangereuses et harmoniques 2.3.3. Cur ergo aliquando fiunt monstra? ‘Warum also entstehen manchmal Monster?’ 2.3.4. Mechanistische Magie 2.3.5. Resumé 3. Descartes’ Experimentalphilosophie 3.1. Descartes und der Mpemba-Effekt 3.2. Erfahrung bei Descartes 3.3. Primat der Praxis 3.4. Experimente 3.5. Zum Zusammenspiel von Beobachtung, bildlicher Konzeption und wissenschaftlicher Erklärung in Descartes’ Die Meteore 3.5.1. Parhelia 3.5.2. Die Ausgangslage 3.5.3. Descartes’ ‘Konkrete Geometrie’ oder: Descartes als Bricoleur 3.5.4. Die Zusammenarbeit mit Künstlern 3.5.5. Descartes’ Wetter-Porträts 3.5.6. Die Form des Wassers 3.5.7. Catch the wind 3.5.8. Wolkenmalerei 3.5.9. Gespenster am Himmel 3.5.10. Schnee-Bilder 3.5.11. Zwischenresultat III. TEIL: ABBILDEN UND ÜBERZEUGEN BEI DESCARTES 1. Bilder des ‘Rationalismus’? 2. Zur Epistemologie des Bildes: Einige begriffliche Vorklärungen und Fallbeispiele 2.1. Illustrative Funktion 2.2. Wissensorganisation 2.3. Bild-Beweise 2.4. Bilder und empirische Evidenz 2.5. Vesalius’ Idealismus 2.6. Fabricius’ Bilderserien: Empirische Evidenz als Harmonie der Täuschungen 2.7. Harveys Bilderfeindschaft 2.8. Demonstrationes ad oculos 2.9. Evidenz der Bilder? 3. Bilder-Denk-‚Modelle’? Die Bilder der Dioptrik 3.1. Das Camera-obscura-Problem 3.2. Abbilden und Leserlenkung 4. Maschinenbilder/Menschenbilder? Der Bilderstreit um den Traité de l’ homme 4.1. Explanatorische Bilder? 4.2. Habent sua fata libelli 4.3. Facta und Ficta 4.4. Intelligible Mechanismen? 4.4.1. Reflexionen zum Reflex 4.4.2. Traumtheater Virtuelle Anatomie 4.5.1. Reise ins Herz des Textes 4.5.2. Hauch/spiritus 4.6. Transparente Illusionen 5. Weisen der Welterzeugung (2): Kometenschiffe (Zu den Bildern aus Le Monde und den Principia) 5.1. Wer erfand die Bilder zu Le Monde? 5.2. Imaginationen von Bild-Analogien 5.3. Imaginative Analogien und imaginative Deduktionen 5.4. Perceptio clara, quid distincta 5.5. Ein Beispiel: Planetengeburten, – ‚vernünftig imaginiert’ 5.6. Visus 5.7. Figurati! Descartes’ Figurationen und die Kunst der Deduktion 5.8. Die Verwandlungen von Phänomenen in Gründe resp. Demonstrationen 5.9. Descartes’ Material 5.10. Descartes’ Formenlehre 5.11. Bild-Attraktionen. Descartes’ ästhetische Deduktion des Magnetismus 5.12. Wissen im Entwurf: Be-Greifen und Zeichnen 6. Beschluß: Die Chimären der Vernunft