Vor etwa 300 Jahren „öffnete“ Peter der Große „Russlands Fenster nach Europa“ und erschütterte durch diese Umwälzung die bis dahin geltende russische Wertehierarchie. Moskau stellte von nun an nicht mehr den Hort des reinen Glaubens, das Abbild des Himmelreiches auf Erden, sondern lediglich ein unterentwickeltes Territorium dar, das erst zivilisiert werden musste. Das Land begab sich auf eine Aufholjagd, um den Rückstand gegenüber dem wirtschaftlich und technologisch davoneilenden Westen zu beseitigen.Der Versuch Peters des Großen, Russland an die europäische „Normalität“ anzupassen, geriet in einen eklatanten Widerspruch zu dem im Lande tief verwurzelten Glauben an die Auserwähltheit der russischen Nation, der „heiligen Rus’“. Und nicht zuletzt aufgrund dieses Glaubens ist es den Nachfolgern Peters niemals gelungen, Russland in ein „normales“ europäisches Land zu verwandeln. Aber auch die Widersacher Peters des Großen waren nie imstande, die Folgen seines Werks ungeschehen zu machen. Nach dem petrinischen Verzicht auf den russischen „Sonderweg“ hatte das Land die Chance erhalten, prägend an der Weiterentwicklung der europäischen Kultur in ihrer Gesamtheit mitzuwirken. Dessen ungeachtet wurde der europäische Charakter Russlands sowohl im Westen als auch in Russland selbst fortwährend in Frage gestellt. Dies insbesondere nach dem Sieg der bolschewistischen Revolution, die zu einer erneuten Trennung der beiden essentiell aufeinander angewiesenen Teile Europas führte. Die Beiträge des Bandes werden sich mit der Analyse dieser Diskurse wie auch mit den Ursachen und Folgen der bolschewistischen Umwälzung befassen, die Russlands „Fenster nach Europa“, das Peter der Große geöffnet hatte, wieder schloss.
Over de auteur
Prof. Dr. Leonid Luks, geb. 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg), studierte Slavische Philologie, Osteuropäische Geschichte und Neuere Geschichte in Jerusalem und München. 1973 Promotion und 1981 Habilitation an der LMU München. Danach als Hochschullehrer tätig an den Universitäten München, Bremen und Köln. Seit 1995 Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Mitherausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.