Die wechselseitige Bedingtheit von Klang und Notation in der Musik stellt für die US-amerikanische und europäische Nachkriegsavantgarde ein Problem dar: Wie sollen die neuen, sich herkömmlichen Systemen entziehenden Klänge visuell fixiert werden? Zahlreiche Komponisten antworten auf diese Frage mit der Entwicklung eigener Notationsästhetiken, die sich auch bildlicher Elemente bedienen. Die wahrnehmungstheoretischen und performativen Implikationen dieses Paradigmenwechsels werden in Earle Browns Zyklus ‘Folio’ (1952–53) reflektiert.
Eine Untersuchung seiner Partituren anhand von zeitgenössischen Schrift- und Bildtheorien zeigt, dass diese Kunstpraxis zwar Aspekte beider Medien berührt, sich durch deren Ansätze jedoch nicht ganz ergründen lässt. Der zwischen Dekodierung und Kontemplation oszillierende Blick auf die Partitur wird aufgefordert, aus dem visuellen Fundus Klangereignisse herauszudestillieren. Diese ästhetische Operation setzt eine zeitweilige Überbrückung des ihr zugrunde liegenden medialen Hiatus voraus. Der theoretische Entwurf einer ‘Auralen Latenz’ versucht der rätselhaften Natur dieses Vorgehens auf den Grund zu gehen.
Over de auteur
David Magnus ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Justus-Liebig-Universität Gießen und forscht über die Wechselwirkung von Körper, Bild und Klang im experimentellen Musiktheater der Nachkriegsavantgarde. Nach seiner Promotion in Philosophie an der Freien Universität Berlin war er Postdoktorand am Graduiertenkolleg ‘Materialität und Produktion’ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf sowie Visiting Lecturer am Masterstudiengang ‘Estudios Interdisciplinarios de la Subjetividad’ an der Universität von Buenos Aires.