Die Religionsschrift löste nicht nur einen langwierigen Streit mit der Zensur aus, sondern gab – wie Kant ebenso schnell wie überrascht feststellen musste – seinen Zeitgenossen »viel Anlaß zu reden«. Zu keiner Publikation Kants erschienen in so kurzer Zeit so viele Beiträge und Rezensionen wie zu seinen religionsphilosophischen Thesen. Schon allein die Tatsache, dass es sich um die erste große Publikation Kants nach den drei Kritiken handelt, weist darauf hin, dass Kant mehr beabsichtigt hat als eine Gelegenheitsschrift. Er selbst kündigte seine »Philosophische Religionslehre« als Übergang von der Kritik zur Doktrin an und verstand sie genau damit auch ausdrücklich als Antwort auf die Frage: »Was darf ich hoffen?«? Die entscheidende philosophische Frage mehr als 200 Jahre nach dem Erscheinen der Religionsschrift dürfte sein: Traf Kant mit der Theorie des Radikalen Bösen, der Kirchenkritik, dem eigenen religiösen Gesellschaftsentwurf und nicht zuletzt der »Philosophischen Religionslehre« selbst nur den Nerv der Zeit? Oder trifft er mit der so wenig schmeichelhaften Diagnose menschlicher Fehlleistungen den Menschen überhaupt und jederzeit an einer derart empfindlichen Stelle seines Selbstverständnisses, dass die Religionsschrift den Widerspruch geradezu provoziert? Die hier vorgelegte Ausgabe der Religionsschrift ist eine vollständige Neuedition auf der Grundlage der B-Auflage von 1794. Die Ausgabe verzeichnet die Paginierungen der B-Auflage und der Akademie-Ausgabe ebenso wie die wichtigsten Varianten der A-Auflage und Handschriften, Konjekturen und Textrevisionen sowie wesentliche Lesarten früherer Editionen. Das Schwergewicht der Ausgabe liegt neben der Bereitstellung eines verläßlichen Textes auf dem Nachweis zeitgeschichtlicher Bezüge. Neben einer Einleitung, Informationen zur Textgeschichte, zum Zensurstreit und der zeitgenössischen Rezeption sowie Anmerkungen zum Textverständnis und der Quellenlage enthält sie neue Sach- und Namensregister sowie ein umfangreiches Register der von Kant direkt und indirekt zitierten Bibelstellen. In der zweiten Auflage sind gegenüber der ersten zahlreiche Druckfehler korrigiert.
O autorze
Bettina Stangneth (* 1966 in Lübeck) ist eine deutsche Philosophin und Historikerin und Autorin mehrerer Bücher. Stangneth absolvierte in Hamburg ein Studium der Philosophie bei Klaus Oehler und Wolfgang Bartuschat. Sie promovierte im Jahr 1997 mit einer Arbeit über Immanuel Kant.
Im Jahr 2000 verlieh die Philosophisch-Politische Akademie Stangneth den Ersten Preis für ihre Arbeit zum Antisemitismus bei Kant. Ihr international bekanntestes Buch heißt Eichmann vor Jerusalem, in Anspielung auf Hannah Arendts berühmtes Buch Eichmann in Jerusalem. Stangneth beschreibt das Leben und die öffentliche Wirkung des Nationalsozialisten Adolf Eichmann bis zu seinem Prozess in Israel 1961.
2012 veröffentlichte Stangneth die Tagebücher und Erinnerungen von Avner Werner Less, dem Verhöroffizier von Eichmann in Jerusalem unter dem Titel Lüge! Alles Lüge!. 2016 veröffentlichte sie eine philosophische Abhandlung über das böse Denken. Stangneth lebt in Hamburg und arbeitet an einer Theorie der Lüge.