Die Begegnung zwischen Bürgern und Mitarbeitenden der öffentlichen Verwaltung kann nicht lediglich als bürokratische Implementation von Normen verstanden werden und folgt nicht dem Muster einer ‘lebenden Maschine’ (Max Weber), sondern Interaktionen auf Ämtern enthalten Praktiken des Austauschs von Argumenten und Gegenargumenten. Die Dialoge zwischen Bürgern und Mitarbeitenden der öffentlichen Verwaltung bleiben auf Entscheidungen bezogen, die getroffen werden müssen: Wieviel Steuern sollen bezahlt werden? Kann eine Eheschließung angemeldet werden? Können Passdokumente ausgestellt werden? Darin zeigen sie Anteile von Deliberationen. Die soziologische Studie untersucht Interaktionen auf Finanz-, Standes- und Bürgerämtern und arbeitet heraus, wie sich in solchen deliberativen Anteilen Staatlichkeit auf der Mikroebene realisiert. Die übliche Beschränkung des Begriffs der Deliberation auf die Legislative kann überwunden und eine Perspektive begründet werden, die auch administratives Handeln in der staatlichen Exekutive als Teil der deliberativen Demokratie begreift. Methodisch werden Prinzipien der Konversationsanalyse mit solchen der Objektiven Hermeneutik verbunden.
Tabela de Conteúdo
1. Einleitung
2. Staatlichkeit als Gegenstand der Soziologie
2.1 Staat als explizite Ordnung und implizite Normativität
2.2 Der fiktionale Staat
3. Öffentliche Verwaltung als Gegenstand der Soziologie
3.1 Verwaltungspraxis als legale Herrschaft
3.1.1 Das Prinzip der Öffentlichkeit
3.1.2 Die rationalisierte Bürokratie und ihre Kritik
3.1.3 Das normative Selbstbild der öffentlichen Verwaltung im Spiegel gesetzlicher Regelungen
3.1.4 Zur Norm der Begründungsverpflichtung
3.1.5 Das Problem der Vermittlung von Individualität und bürokratischen Normen am Beispiel der Sozialverwaltung
3.1.6 Das Problem des Ermessens (Discretion)
3.1.7 Zwischenresümee
3.2 Verwaltungspraxis als deliberative Praxis
3.2.1 Der Deliberationsbegriff allgemein
3.2.2 Kritik der Konzeption des Deliberationsbegriffs in der normativen Demokratietheorie
3.2.3 Warum sollte der Deliberationsbegriff auf die administrative Praxis angewendet werden?
3.2.4 Eine Differenzierung des Deliberationsbegriffs
3.2.5 Empirische Deliberationsforschung
3.2.6 Zur Bedeutung der Differenz zwischen Interaktionsrahmung und -vollzug
3.2.7 Deliberation in der Theorie des kommunikativen Handelns
3.2.8 Die pragmatistisch-handlungstheoretischen Wurzeln des Deliberationsbegriffs93
3.2.9 Zwischenresümee
4. Face-to-Face-Interaktionen als Gegenstand der Soziologie
4.1 Face, Facework und Politeness
4.2 Face-to-Face-Interaktionen in der öffentlichen Verwaltung
4.2.1 Facework im Kontakt von Bürgern und Mitarbeitenden der öffentlichen Verwaltung
4.2.2 Gliederung der Interaktionen
4.2.3 Rahmungen und Interaktionslinien
4.2.4 Typische Face-Threatening-Acts (FTAs) – Aufforderungen, Fragen, Frageankündigungen
4.2.5 Rechtfertigungen (Accounts)
4.2.6 Ein Blick zurück – Interaktionen ohne Deliberation im Sozialamt Anfang der achtziger Jahre
4.2.7 Zwischenresümee
5. Fallanalysen
5.1 Vorbemerkung
5.2 Zur Datenerhebung und Auswahl des Datenmaterials
5.3 Das Analyseverfahren
5.4 Gang der Darstellung
5.5 Interaktionen im Finanzamt
5.5.1 Ein typischer Fall eingeschränkter Deliberation
5.5.2 Deliberative Bearbeitung des Herrschaftskonfliktes
5.5.3 Die drei Deutungsschemata des Staates in der Deliberation
5.5.4 Schleichende Eskalation der Konfliktdynamik in der Deliberation
5.5.5 Deliberation und Deeskalation bei der Bewältigung eines vorab bestehenden Konfliktes
5.5.6 Implizite Deliberation und bürokratischer Habitus
5.5.7 Umgang mit überforderten Bürgern
5.6 Eine Interaktion im Standesamt
5.6.1 Deliberation bei der Anmeldung zur Eheschließung
5.7 Interaktionen im Bürgeramt
5.7.1 Deliberation bei Änderungen der Eintragungen in einem Formblatt
5.7.2 Unterschiedliche Handhabung der Abgabe von Fingerabdrücken auf Personalausweisen – Drei Beispiele
6. Staatlichkeit und Deliberation in Amtsinteraktionen – Generalisierende Zusammenfassung
6.1 Zum Fokus der Staatlichkeit
6.2 Zum Fokus der Deliberation
6.3 Die Bedeutung der Deliberation für die Legitimität des Staates
6.4 Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Liste der Datenbeispiele
Transkriptionszeichen
Sobre o autor
Oliver Schmidtke, PD Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB ‘Medien der Kooperation’ / Universität Siegen. Er studierte Soziologie, Philosophie, Psychoanalyse und ev. Theologie an der Goethe-Universität Frankfurt und der Phillips-Universität Marburg und war wissenschaftlicher Assistent am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Verwaltungs- und Kultursoziologie, qualitative Methoden, Interaktionsanalyse, Architektursoziologie, politische Soziologie. Ausgewählte Monographien: ‘Ideal und Ironie der Gesellschaft’, ‘Familiales Scheitern’ und ‘Architektur als professionalisierte Praxis’.