Ließ Brechts zum Diktum gewordenes Versfragment «Gespräch über Bäume» die Naturlyrik zum fragwürdigen Genre werden, so rief es gleichwohl bald Widerspruch hervor, nicht nur in Paul Celans lyrischer Replik «Ein Blatt, baumlos» und den ebenfalls auf Brecht antwortenden Gedichten Erich Frieds und Günter Eichs, sondern auch in der engagierten ökokritischen Dichtung seit den 1970er Jahren. Während das «Gespräch über Bäume» vor allem auf Natur und Landschaft als Gegenstand und Thema von Dichtung bezogen ist, fragt dieser Sammelband, wie das gegenwärtige Interesse an der Natur mit Formfragen und deren poetologischen Reflexionen in der deutschsprachigen Lyrik seit den 1990er Jahren einhergeht. Wie verbinden sich diese Formfragen und ihre poetologischen Reflexionen in der Gegenwart mit einem diachron weitgefassten Blick auf Ornamente und Schreibweisen wie Arabesken und Grotesken, Gattungsbezeichnungen wie Silven oder Florilegien, arboreale und mykologische Strukturmodelle wie Baumdiagramme, Rhizome oder Myzele, die auf vegetabile Formvorbilder zurückgreifen? Wie lassen sich diese Darstellungen des Vegetabilen in der Dichtung auf naturwissenschaftliche Verfahren der Sichtbarmachung oder das morphologische und botanische Wissen über Bau- und Formprinzipien der Pflanzen beziehen? Von diesen Beobachtungen ausgehend fragen die Beiträge dieses Bandes, welche Poetologien des Vegetabilen die deutschsprachige Gegenwartslyrik ausgebildet hat und wie sich darin botanisches Wissen, medienkritisches Bewusstsein und ästhetisches Naturerleben zu neuen dichterischen Formen verschränken.
Cuprins
Einleitung.- Jenseits des Menschen - Vegetal Poetics oder Schreiben im Anthropozän.- Scheinbar nebensächlich: Zum widerständigen Potenzial von Ruderalliteratur.- Dunkle Bestimmungen. Marion Poschmanns Pflanzenlyrik in Trugbilder: Herbarium (2010) als ecological art.- Grünes Gras statt blauer Blume. Botanische Leitmetaphern der Gegenwartslyrik.- „Laubforschung“. Vegetabile Zeichenregimes in Marion Poschmanns Kindergarten Lichtenberg, ein Lehrgedicht.- Kritik des nature writing. Formen der Übertragung von Landschaft in Daniela Seels was weisst du schon von prärie (2015).- Editing Flora. Poetischer Dataismus im Technozän.- In Zeiten abnehmenden Grüns. Regression und Restitution des Vegetabilen in Silke Scheuermanns Skizze vom Gras (2014).- Zwischen Tintenstimme und Lobgesang. Klangformen des Vegetabilen bei Marcel Beyer und Anja Utler.- „Ein haltloses / Tableau.“ Zur Dynamisierung einer Organisationsform in Marcel Beyers Gedichtzyklus Wacholder.- Poetologische Poesie durch die Blume: Friederike Mayröckers Gedicht auf eine Traubenhyazinthe.- Unblumenstücke, Lesen. Versuch zu Oswald Eggers Quasi-Rosarium (in Qiuncunx).- Gegenwartslyrik im Kontext ihrer Vorgeschichte. Anmerkungen zu Die Schweizer Korrektur (1995).
Despre autor
Yvonne Al-Taie ist Privatdozentin und Akademische Rätin a. Z. am Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Evelyn Dueck ist Assistenzprofessorin (Tenure Track) in Neuerer deutscher und Vergleichender Literaturwissenschaft an der Universität Genf.