Die Studie zeichnet ein überraschend neues Bild der griechisch-römischen Lesekultur. Sie untersucht anhand der Leseterminologie, wie Menschen in der Antike ihr eigenes ’Lesen’ verstanden haben, und bezieht diese Ergebnisse auf die materiellen und sozialgeschichtlichen Zeugnisse über Leseverhalten und -bedingungen. Es werden verbreitete Annahmen widerlegt, z. B. über das grundsätzlich ’laute’ Lesen, über die Verbreitung einer performativen Vorlesekultur oder über den Gottesdienst als Ort der Erstrezeption neutestamentlicher Schriften. Ein differenziertes Modell zur Beschreibung von Lesepraktiken eröffnet neue Wege für die (historische) Leseforschung auch in anderen Bereichen. Vor allem wird deutlich, dass sich die neutestamentlichen Schriften im Rahmen dieser Lesekultur verstehen lassen und z. T. für die individuell-direkte Lektüre konzipiert wurden. Damit werden auch elaborierte Lektürekonzepte plausibel, wie sie etwa das Markusevangelium voraussetzt.
Innehållsförteckning
1 Einleitung
1.1 Lesen im frühen Christentum – Zum Forschungsstand
1.2 Die lange Debatte um die Frage nach dem ’lauten’ und ’leisen’ Lesen in der Antike
1.3 Methodische Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung
1.4 Fragestellung, Forschungsansatz und Vorgehen
1.5 Beschreibungssprache und weitere terminologische Klärungen
Teil I Grundlagen
2 Überblick über die Vielfalt der Lesemedien
3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Ausblicken auf das Lateinische
3.1 Lesen als Erkennen
3.2 Lesen als Hören
3.3 Lesen als Sammeln
3.4 Lesen als Begegnung und Kontakt mit dem Text
3.5 Lesen als haptischer Umgang mit dem Medium
3.6 Lesen als Suchen bzw. Fragen
3.7 Lesen als Bewegung
3.8 Lesen als Sehen des Textes
3.9 Lesen als Essen und Trinken
4 Scriptio Continua und ’typographische’ Merkmale antiker Handschriften
4.1 P. Saengers These zum Lesen von scriptio continua vor dem Hintergrund der modernen kognitions- und neurowissenschaftlichen Leseforschung
4.2 Das Lesen von scriptio continua im Spiegel antiker Quellen
4.3 Weitere ’typographische’ Gestaltungsmerkmale antiker Handschriften und die Frage nach ’Lesehilfen’
4.4 Zwischenfazit und die Frage nach der Repräsentation von Klang in der Schrift
5 Publikation in der Antike und Verfügbarkeit von Literatur
6 Zwischenertrag: Die Vielfalt antiker Lesepraktiken und -kontexte
6.1 Kollektive Rezeption und Lesen beim Gemeinschaftsmahl
6.2 Individuelle Lektüre
Teil II Anwendung der erarbeiteten Grundlagen zur Analyse spezifischer Textcorpora
7 Lesen im antiken Judentum – Exemplarische Fallstudien
7.1 Hebräische Bibel, LXX und außerkanonische Schriften
7.2 Philo
7.3 Qumran
7.4 Lesen in der Synagoge bzw. am Sabbat und Ertrag
8 Lesen im Neuen Testament
8.1 Überblick über kleinere Leseszenen
8.2 Lesen des Alten Testaments im Neuen Testament
8.3 Zur Lektüre der Paulusbriefe und Paulus’ Brieflektüre
8.4 Die Ansprache der Rezipienten als Leser in Erzähltexten des NT
9 Rückblick und Ausblick: Lesen im frühen Christentum
9.1 Rückblick und methodologische Implikationen für die Exegese
9.2 Zum Stellenwert des Lesens im frühen Christentum: Mündlichkeit und Skeptizismus gegenüber dem geschriebenen Wort?
9.3 Lesen im Kontext der Komposition sowie der Abschreibepraxis neutestamentlicher Texte
9.4 Ein Vorleser/Lektor in den frühchristlichen Schriften als Evidenz für gottesdienstliche Lesungen?
9.5 Vielfalt frühchristlicher Lesepraxis: Zum Charakter kollektiv-indirekter Leseanlässe im frühen Christentum und individuell-direkte Lektüre
9.6 Konsequenzen für die Frage nach der Entstehung des neutestamentlichen Kanons
Om författaren
Prof. Dr. Jan Heilmann ist Lehrstuhlinhaber der Professur ’Neues Testament und griechisch-römische Kultur’ an der LMU München. 2020 hat er sich an der Evang.-Theol. Fakultät der Ruhr-Universität Bochum mit der vorliegenden Arbeit habilitiert. Diese wurde mit dem Hanns-Lilje-Preis 2020 der Göttinger Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet.