Für sein letztes Buch stellte Leo N. Tolstoi 1903 bis 1910 – neben eigenen Texten – in freier Bearbeitung viele Gedanken ’brahmanischer, konfuzianischer, buddhistischer Weisheit, aus den Evangelien, den Apostelbriefen sowie den Schriften vieler anderer, alter wie neuer Denker’ zusammen (ohne Nennung der Verfassernamen). Nur zwei Jahre nach seinem Tod wurde das Werk einer deutschsprachigen Leserschaft unter dem Titel ’Der Lebensweg – Ein Buch für Wahrheitssucher’ (1912) dargeboten. Die Übersetzung stammte von Dr. Adolf Heß.
In seinem einleitenden Text zur vorliegenden Neuedition dieser Ausgabe schreibt Holger Kuße: ’Der Weg des Lebens ist systematisch aufgebaut, aber es ist dennoch bemerkenswert, wie der Text zur Sammlung von Gedanken wird, die im wörtlichen (im Druckbild sichtbare) wie im übertragenen Sinne Freiräume lässt, in die eigene Erfahrungen eingetragen werden können. Weisheit ist hier nicht nur die von allen Weisen aller Zeiten und Religionen übereinstimmend erkannte Wahrheit des wahren Lebens, sondern auch die Weisheit der Beschränkung. Einzelne Worte werden in den Alltag gesprochen. Zusammen bilden sie vielleicht ein System, eine allumfassende Welterklärung und Philosophie, aber vor allem sollen sie jedes für sich im Leben ihrer Leserinnen und Leser wirken. Weisheit ist bei Tolstoi universal und individuell zugleich. Der Gedanke, egal ob Aussage oder Imperativ, muss sich im einzelnen Leben bewähren. Er kann nicht Theorie bleiben, sondern muss individuelle Lebenspraxis sein. Das zeigt (und ermöglicht) die Lücke im Text oder die Lücke zwischen den Texten, die individuelle Füllungen, Weiterdenken und Überdenken, aber auch Pausen im Denken ermöglichen.’
Die Sammlung erschließt – neben einer heute befremdlichen Abteilung zur ’Geschlechtsbegierde’ – Tolstois Anschauungen über Religion, die Einheit der menschlichen Familie, die Liebe zu allem Lebendigen, Macht, Gewalt, Straf-Ideologie, Eigentumsverhältnisse und weitere Fragen eines anderen Lebens jenseits der getriebenen Eigensicherung.
Tolstoi-Friedensbibliothek
Reihe A, Band 14 (Signatur TFb_A014)
Neu ediert von Peter Bürger und Ingrid von Heiseler,
mit einer Hinführung von Holger Kuße
Om författaren
Leo (Lew) Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910) stammte aus einer begüterten russischen Adelsfamilie; die Mutter starb bereits 1830, der Vater im Jahr 1837. Zunächst widmete sich der junge Graf dem Studium orientalischer Sprachen (1844) und der Rechtswissenschaft (ab 1847). 1851 Eintritt in die Armee des Zarenreiches (Kaukasuskrieg, Krimkrieg 1854). 1862 Eheschließung mit Sofja Andrejewna, geb. Behrs (1844-1919); das Paar hatte insgesamt dreizehn Kinder (Hauptwohnsitz: Landgut Jasnaja Poljana bei Tula). Literarischen Weltruhm erlangte L. Tolstoi durch seine Romane ’Krieg und Frieden’ (1862-1869) und ’Anna Karenina’ (1873-1878). Ab einer tiefen Krise in den 1870er Jahren wurde die seit Jugendtagen virulente religiöse Sinnsuche zum ’Hauptmotiv’ des Lebens. Theologische bzw. religionsphilosophische Arbeiten markieren die Abkehr von einem auf dem Pakt mit der Macht erbauten orthodoxen Kirchentum (Exkommunikation 1901). Für Christen sah Tolstoi ausnahmslos keine Möglichkeit der Beteiligung an Staats-Eiden und Tötungsapparaten (Militär, Justiz, Todesstrafe, Herrschaftsideologie des Patriotismus, blutige Revolution mit Menschenopfern). Die in der Bergpredigt Jesu erkannte ’Lehre vom Nichtwiderstreben’ ließ ihn schließlich zu einem Inspirator Gandhis werden. Lackmusstext für den Wahrheitsgehalt aller Religionen waren für Tolstoi die Ablehnung jeglicher Gewalt und das Zeugnis für die Einheit der ganzen menschlichen Familie. Thomas Mann fand wenig Gefallen an der hochmoralischen ’Kunsttheorie’ und den (von Rosa Luxemburg z.T. durchaus geschätzten) Traktaten des späten Tolstoi, bemerkte aber – mit Blick auf die vielen Millionen Toten des Ersten Weltkriegs – 1928 anlässlich der Jahrhundertfeier von Tolstois Geburt: ’Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, dass er es nicht gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre vierzehn die scharfen, durchdringenden grauen Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären.’