Ab der Jugendzeit war Sex für Leo N. Tolstoi so etwas wie ein Droge geworden. Im reifen Mannesalter betrachtete er die sexuelle ’Enthaltsamkeit’ als ’eine notwendige Bedingung der menschlichen Würde im ehelosen Zustand’. Hier stimmte er ausnahmsweise überein mit dem Apostel Paulus: Am besten wäre, alle lebten ehelos und enthielten sich jeglicher Sexualität; doch wenn die sinnliche Begierde allen guten Vorsätzen zum Trotz brennt, soll Verheiratung das Feuer löschen. In der Nachschrift zur ’Kreuzersonate’ verstieg sich der Dichter 1890 dann zur These: ’Eine christliche Ehe gibt es nicht und hat es nie gegeben.’ Seine Gattin hatte auf Wunsch des Mannes sechszehn Schwangerschaften tragen müssen und schüttelte den Kopf ob solcher Botschaften.
Es ging Tolstoi um Annäherungen an ein für den Menschen unerreichbares ’Ideal’, nicht um ein rigoroses Gesetz, Moralpredigten zur Verbreitung von Angst oder jene Androhung von Höllenstrafen, mit welcher der kirchliche Beichtspiegel die Gläubigen einst in immerwährende Abhängigkeit verstrickt hat. Doch ’tierischer Trieb’ und Sinnlichkeit werden bei ihm nicht ’integriert’. Stattdessen entwirft der russische Christ ein leibfeindliches Programm, das – wie er selbst zugibt – mit seinem eigenen Leben wenig zu tun hat und dessen weite Verbreitung wohl kaum zur Mehrung von Glück in der Menschenwelt beitragen konnte. Soll das ’wilde Tier’ nun getötet oder gezähmt werden?
Der vorliegende Band bietet die Möglichkeit, sich mit dem ’Antisexualismus’ Leo N. Tolstois und auch mit dessen – von Widersprüchen durchzogenen – Frauenbild vertraut zu machen. Er enthält die beiden Übertragungen der Tolstoi-Anthologie ’Über die sexuelle Frage’ (O polovom voprose, 1901) von Michail Feofanov und Nachman Syrkin sowie im Anhang die berühmt-berüchtigte Novelle ’Die Kreutzersonate’ (1887/89, Übersetzung August Scholz).
Tolstoi-Friedensbibliothek
Reihe B, Band 15 (Signatur TFb_B015)
Herausgegeben von Peter Bürger,
Editionsmitarbeit: Bodo Bischof
Om författaren
Leo (Lew) Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910) stammte aus einer begüterten russischen Adelsfamilie; die Mutter starb bereits 1830, der Vater im Jahr 1837. Zunächst widmete sich der junge Graf dem Studium orientalischer Sprachen (1844) und der Rechtswissenschaft (ab 1847). 1851 Eintritt in die Armee des Zarenreiches (Kaukasuskrieg, Krimkrieg 1854). 1862 Eheschließung mit Sofja Andrejewna, geb. Behrs (1844-1919); das Paar hatte insgesamt dreizehn Kinder (Hauptwohnsitz: Landgut Jasnaja Poljana bei Tula). Literarischen Weltruhm erlangte L. Tolstoi durch seine Romane ’Krieg und Frieden’ (1862-1869) und ’Anna Karenina’ (1873-1878). Ab einer tiefen Krise in den 1870er Jahren wurde die seit Jugendtagen virulente religiöse Sinnsuche zum ’Hauptmotiv’ des Lebens. Theologische bzw. religionsphilosophische Arbeiten markieren die Abkehr von einem auf dem Pakt mit der Macht erbauten orthodoxen Kirchentum (Exkommunikation 1901). Für Christen sah Tolstoi ausnahmslos keine Möglichkeit der Beteiligung an Staats-Eiden und Tötungsapparaten (Militär, Justiz, Todesstrafe, Herrschaftsideologie des Patriotismus, blutige Revolution mit Menschenopfern). Die in der Bergpredigt Jesu erkannte ’Lehre vom Nichtwiderstreben’ ließ ihn schließlich zu einem Inspirator Gandhis werden. Lackmusstext für den Wahrheitsgehalt aller Religionen waren für Tolstoi die Ablehnung jeglicher Gewalt und das Zeugnis für die Einheit der ganzen menschlichen Familie. Thomas Mann fand wenig Gefallen an der hochmoralischen ’Kunsttheorie’ und den (von Rosa Luxemburg z.T. durchaus geschätzten) Traktaten des späten Tolstoi, bemerkte aber – mit Blick auf die vielen Millionen Toten des Ersten Weltkriegs – 1928 anlässlich der Jahrhundertfeier von Tolstois Geburt: ’Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, dass er es nicht gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre vierzehn die scharfen, durchdringenden grauen Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären.’