In den Jahren 1879-1884 arbeitete Leo N. Tolstoi an seiner ’Untersuchung der dogmatischen Theologie’. 1891 veröffentlichte L. Albert Hauff unter dem Titel ’Vernunft und Dogma’ eine Übersetzung des ersten Teils des Werkes. Die vorliegende Neuedition dieser Ausgabe für eine deutschsprachige Leserschaft enthält im Anhang außerdem die Legende von den ’drei Greisen’ (1886), eine Darstellung von Pavel Birjukov zum theologiekritischen Selbststudium Tolstois (1909) sowie einen Text von Eugen Drewermann (’Das ’Unaussprechliche’ als Gegenstand reiner Wortmagie’, 1993).
Eine Zeitlang versucht Tolstoi, im Raum der Kirche jene Glaubensspur weiterzuverfolgen, die einen Ausweg angesichts seiner Verzweiflung an der ’Sinnlosigkeit’ des eigenen Lebens eröffnet. Bei der Lektüre eines weit verbreiteten Dogmenhandbuches des Moskauer Metropoliten Makaraji tritt große Ernüchterung ein: ’Man denkt unwillkürlich, dass die einfachste, klarste Schlussfolgerung aus allen hervorgegangenen Streitigkeiten nur die eine sei, man solle keine Dummheiten reden, man solle vor allem nicht lehren, was niemand begreifen kann und, was noch wichtiger ist, man solle nicht darauf hin die hauptsächlichsten Grundlagen des Glaubens, die Liebe und die Nachsicht für den Nächsten, erschüttern.’
Bedeutsam sind für den russischen Dichter nicht abstrakte Dispute, sondern der Schrei nach Erlösung und der Glaubenssinn der einfachen Christenmenschen: ’Fragt einen Bauern, ein Weib, was die Dreifaltigkeit sei, so wird von zehn kaum einer antworten, und man kann nicht sagen, dass das von Unwissenheit herrühre. Fragt man aber, worin die Lehre Christi besteht, so antwortet jeder. Das Dogma der Dreifaltigkeit ist nicht kompliziert und nicht lang, warum also kennt es niemand? Deshalb, weil man nicht kennen kann, was keinen Sinn hat.’ -’Von hundert Frauen und Männern aus dem Volke verstehen nicht mehr als drei die Personen der Dreieinigkeit herzuzählen und nicht mehr als dreißig können sagen, was die Dreieinigkeit sei, verstehen aber nicht die Personen aufzuzählen und schließen Nikolai den Wundertäter und die Mutter Gottes mit ein. Der ganze Rest weiß nichts von der Dreieinigkeit.’
Tolstoi-Friedensbibliothek
Reihe A, Band 2 (Signatur TFb_A002)
Herausgegeben von Peter Bürger
Editionsmitarbeit: Gottfried Orth
Om författaren
Leo (Lew) Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910) stammte aus einer begüterten russischen Adelsfamilie; die Mutter starb bereits 1830, der Vater im Jahr 1837. Zunächst widmete sich der junge Graf dem Studium orientalischer Sprachen (1844) und der Rechtswissenschaft (ab 1847). 1851 Eintritt in die Armee des Zarenreiches (Kaukasuskrieg, Krimkrieg 1854). 1862 Eheschließung mit Sofja Andrejewna, geb. Behrs (1844-1919); das Paar hatte insgesamt dreizehn Kinder (Hauptwohnsitz: Landgut Jasnaja Poljana bei Tula). Literarischen Weltruhm erlangte L. Tolstoi durch seine Romane ’Krieg und Frieden’ (1862-1869) und ’Anna Karenina’ (1873-1878). Ab einer tiefen Krise in den 1870er Jahren wurde die seit Jugendtagen virulente religiöse Sinnsuche zum ’Hauptmotiv’ des Lebens. Theologische bzw. religionsphilosophische Arbeiten markieren die Abkehr von einem auf dem Pakt mit der Macht erbauten orthodoxen Kirchentum (Exkommunikation 1901). Für Christen sah Tolstoi ausnahmslos keine Möglichkeit der Beteiligung an Staats-Eiden und Tötungsapparaten (Militär, Justiz, Todesstrafe, Herrschaftsideologie des Patriotismus, blutige Revolution mit Menschenopfern). Die in der Bergpredigt Jesu erkannte ’Lehre vom Nichtwiderstreben’ ließ ihn schließlich zu einem Inspirator Gandhis werden. Lackmusstext für den Wahrheitsgehalt aller Religionen waren für Tolstoi die Ablehnung jeglicher Gewalt und das Zeugnis für die Einheit der ganzen menschlichen Familie. Thomas Mann fand wenig Gefallen an der hochmoralischen ’Kunsttheorie’ und den (von Rosa Luxemburg z.T. durchaus geschätzten) Traktaten des späten Tolstoi, bemerkte aber – mit Blick auf die vielen Millionen Toten des Ersten Weltkriegs – 1928 anlässlich der Jahrhundertfeier von Tolstois Geburt: ’Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, dass er es nicht gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre vierzehn die scharfen, durchdringenden grauen Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären.’