Das Goethejahr 1999 fiel in eine Zeit aufgeregtester Diskussion über ‚Globalisierung‘. Goethes Begriff der >Weltliteratur< gewann in diesem Zusammenhang neue Aktualität. Nach wie vor besteht jedoch Uneinigkeit darüber, was der alte Goethe mit seinen Weltliteratur-Äußerungen genau im Sinn hatte. Handelt es sich um ein Programm literarischer Völkerverständigung, dessen utopische Beschwörung eines »allgemeinen Friedens« heute nur noch wehmütige Skepsis hervorrufen kann? Oder stellen Goethes Bemerkungen zum enorm gesteigerten und beschleunigten ‚geistigen Handelsverkehr‘ zwischen den Nationen vielmehr eine hellsichtige frühe Medien- und Kommunikationstheorie der modernen Literatur dar?
Die Arbeit versucht, Goethes fragmentarisches Weltliteraturkonzept so zu rekonstruieren, daß seine drei wichtigsten Dimensionen – historische Diagnose, moralischer Appell und klassizistische Poetik der Moderne – gleichgewichtig zur Geltung kommen. Dazu wird im ersten Teil jene Theoriedebatte des 18. Jahrhunderts umrissen, die die Bildung des Begriffs ‚Weltliteratur‘ in der Sattelzeit ermöglichte: die Anerkennung kultureller Verschiedenheit in der Philosophie der Aufklärung (Montesquieu u.a.); die Diskussion über die heraufziehende Weltgesellschaft bei Autoren wie Rousseau, Adam Smith und Kant; die Überlegungen Herders und Humboldts zum Prozeß ‚nationalliterarischer‘ Besonderung und interkultureller Verflechtung. Der zweite Teil verfolgt anhand exemplarischer Texte die Genese von Goethes Weltliteratur-Begriff in drei Schritten: von den als Reaktion auf die Französische Revolution entstandenen »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten« (1795) über den »West-östlichen Divan« (1814–19) bis hin zu Goethes Weltliteratur-Publizistik der zwanziger Jahre in seiner Zeitschrift »Über Kunst und Altertum«.