2001 verbrachte die russische Journalistin Anna Politkowskaja im Rahmen eines Milena Jesenská-Fellowships drei Monate am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien und arbeitete an ihrem Buch über den zweiten Tschetschenienkrieg (deutsch 2003 erschienen unter dem Titel Tschetschenien. Die Wahrheit über den Krieg). Sie wurde schon damals massiv bedroht. Als wir sie zu einem Treffen der Jesenska-Alumni im September 2006 einluden, antwortete sie nicht. Am 7. Oktober wurde sie in Moskau ermordet.
Im Oktober 2007 wurde Leszek Kolakowski achtzig Jahre alt. 1959 an die Universität Warschau berufen, war er Verfechter einer Reform des Kommunismus, bis er 1966 aus der Partei ausgeschlossen wurde, 1968 seinen Lehrstuhl verlor und in den Westen emigrierte. Mit der Idee des Sozialismus hat Kolakowski sich schon früh beschäftigt. In seinem 1957 geschriebenen und von der Zensur unterdrückten ironischen Pamphlet ‘Was ist Sozialismus?’ hält er dem kommunistischen Regime einen Spiegel vor. Fast fünf Jahrzehnte nach diesem – hier wiederabgedruckten – Meisterstück politischer Satire zieht Kolakowski in seinem Essay ‘Was vom Sozialismus bleibt’ noch einmal Bilanz: ‘Dass sich der Marxismus in so gut wie allem geirrt hat’, schreibt Kolakowski, ‘macht noch lange nicht die sozialistische Tradition obsolet. Und dass die sozialistischen Ideale missbraucht wurden, diskreditiert sie nicht schon. Schließlich haben sich sozialistische Werte mit liberalen verbunden und wurden im Rahmen demokratischer Marktwirtschaft verwirklicht.’ Sozialismus ‘als Ausdruck der Solidarität mit den Unterdrückten und sozial Benachteiligten’ und als Korrektiv ‘das uns daran erinnert, dass es etwas jenseits von Konkurrenzkampf und Gier gibt, aus all diesen Gründen ist der Sozialismus – das Ideal, nicht das System – immer noch von Nutzen.’
Table of Content
Editorial
Krzysztof Michalski
Die Zerbrechlichkeit des Ganzen
Leszek Kolakowski
Was ist Sozialismus? (1957)
Tony Judt
Dem allen Lebewohl?
Kolakowskis Hauptströmungen des Marxismus heute gelesen
John Gray
Vom Kommunismus zum Neokonservatismus
Zur Aktualität von Kolakowskis Hauptströmungen
Marci Shore
Familiendrama
Die Juden und der Kommunismus in Osteuropa
Anna Politkowskaja
Was habe ich Niederträchtige denn getan?
Mainat Abdulajewa
Der Preis der Wahrheit
Marie Mendras
Anna oder die Anprangerung der Gewalt
Jean-François Bouthors
Vom Sinn, den Annas Leben hatte
Anna Schor-Tschudnowskaja
Anna Politkowskaja: Berichterstattung über das unfassbare Böse
Eine Frage des Stils
Martin Malek
Auf schwarzen Listen
Putins Russland, Anna Politkowskaja und ihr Russisches Tagebuch
Nina Khrushcheva
Das Jahr der Angst
Russland nach Politkowskaja
Yulia Vishnevetskaya
Tschetschenien 2007. Photographien
Joschka Fischer
Europa und der Nahe Osten
Martin Hala
Von der Wandzeitung zum Blog
Meinungs- und Gedankenfreiheit in China heute
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