Im 19. und 20. Jahrhundert wurde die Legendengestalt des Ewigen Juden Ahasver, der als zur Ruhelosigkeit verdammter, unsterblicher Wanderer die Welt durchstreifte, bis weit in die intellektuellen Eliten hinein als Personifikation des jüdischen Volkes verstanden. Dieses Bild prägte auch das Selbstverständnis des westlichen Judentums. Doch mußte aus jüdischer Sicht die Selbstidentifikation mit dem negativen Fremdbild zu einer Verstörung führen, die Theodor Lessing als »jüdischen Selbsthass’ umschrieb. Alfred Bodenheimer zeigt, daß etliche jüdische Autoren in der biblischen Gestalt des Moses eine positive Gegenfigur zu Ahasver fanden. Auch Moses war ein Wanderer, der das angestrebte Ziel, das Gelobte Land, nie erreichte. Zugleich aber konnte er als Befreier und als Übermittler des Gesetzes verstanden werden, das dem Judentum in den Jahrhunderten des Exils seine religiöse Eigenständigkeit verliehen hatte. Anhand von Autoren wie Heinrich Heine, Theodor Herzl, Jakob Wassermann, Sigmund Freud, Nelly Sachs oder Stefan Heym wird gezeigt, wie aus der Synthese der Wanderer Ahasver und Moses in der säkularen jüdischen Moderne ein neues Selbstbild entstand. Ahasver/Moses wurde, in ganz verschiedenen literarischen Ausformungen und unter unterschiedlichen zeitgeschichtlichen Verhältnissen, zu jener Figur, die allein noch imstande zu sein schien, den Weg aus einem verkrusteten staatlichen Territorialdenken zu weisen. Wo Gott (wie Friedrich Nietzsche analysierte) getötet und durch den Staat ersetzt worden war, bot der Wandernde Jude ein Gegenbild. Nicht darin, daß sie Gott für das Abendland »gerettet’ hätten, wohl aber darin, daß das Judentum in seinem ewigen Wandern an die Abwesenheit Gottes noch erinnern sollte, gestalteten diese säkularen jüdischen Autoren eine neue Authentizität der jüdischen Moderne.
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Aus dem Inhalt:
Vorbemerkung
1. Der projizierte und der reflektierte Jude – eine Einleitung
2. »jene Volksmumie, die über die Erde wandert’. Heinrich Heines doppelte Inversion
3. Gras und Pflastersteine. Theodor Herzls mosaische Phantasien
4. Ahasveriaden. Fritz Mauthner, Ernst Toller und Jakob Wassermann
5. »Seltsames Wandern zum Rhein vom Nil’. Karl Wolfskehls Dialektik der Verheißung
6. »Kann denn ein Land Verheißung sein?’ Das wandernde Volk und der sterbende Moses bei Else Lasker-Schüler, Hedwig Caspari und Rudolf Kayser
7. Das Denken des Unvorstellbaren. Arnold Schönberg
8. Die Entmaterialisierung Gottes und das Verhängnis der uneingestandenen Schuld. Sigmund Freud
9. Krakelschrift, Sinaisand. Heteronomie und Repräsentation in Gertrud Kolmars »später’ und Nelly Sachs’ »früher’ Dichtung
10. »Our face!’ oder Authentisch antithetisch. Stefan Heyms Ahasver und Philip Roths Operation Shylock
11. Schlußwort: Die verlorene Abwesenheit
Yazar hakkında
Alfred Bodenheimer, geb. 1965 in Basel, ist, nach Tätigkeiten an der Hebrew University Jerusalem, der Bar Ilan University bei Tel Aviv und der Universität Luzern, seit 2003 Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel und leitet deren Zentrum für Jüdische Studien. 2005-2008 war er daneben Rektor der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, 2010-2012 war er in Basel der europaweit erste jüdische Dekan einer Theologischen Fakultät.