Infrastrukturen werden oft als gegeben betrachtet. Sie geraten nur dann ins Rampenlicht der öffentlichen Aufmerksamkeit, wenn sie als ‘Lebensadern’ der alltäglichen Praktiken ausfallen oder nicht so funktionieren wie erwartet. Häufig ist dann von ‘kritischen’ Infrastrukturen die Rede. Mal geht es um soziale Infrastrukturen wie Bildung, Erziehung, Pflege oder Gesundheit. Vermehrt richtet sich der Blick aber auch auf jene Infrastrukturen, die für die ökonomische Globalisierung von grundlegender Bedeutung sind:
– Handelswege, also Seerouten, Kanäle, Häfen, Bahnstrecken oder Flugrouten;
– die Systeme der Energieversorgung, vor allem Stromnetze und Öl- oder Erdgas-Pipelines;
– digitalisierte Kommunikationssysteme wie das Internet;
– die satelliten-gestützte Navigation (GPS) und Systeme mit einer hohen Datenübertragung (5G);
– und internationale Zahlungssysteme (SWIFT), die nicht nur den Handel, sondern auch die grenzüberschreitende Vernetzung der Finanzmärkte abstützen.
Die terroristischen Anschläge und Cyber-Attacken der 2000er Jahre haben bereits dazu geführt, dass einige dieser Infrastrukturen diskursiv ‘versicherheitlicht’, d.h. als anfällig für existenzielle gesellschaftliche Bedrohungen betrachtet wurden. Einige Wissenschaftler gehen inzwischen noch einen Schritt weiter und verweisen darauf, dass Infrastrukturen mitunter strategisch als nicht-militärische ‘Waffe’ eingesetzt werden können, um Druck auf missliebige Staaten auszuüben. Über derartige Fähigkeiten verfügen vor allem die USA und China – Stichwort: ‘Neue Seidenstraße’ –, die um die Kontrolle über zahlreiche Infrastrukturen ringen. In Reaktion auf die russische Invasion in die Ukraine nutzen nun aber auch die EU und andere Staaten Infrastrukturen, so etwa SWIFT, um die vereinbarten Sanktionen gegenüber Russland effektiv durchsetzen zu können.
Letztlich wäre es verkürzt, den Aufbau und die Entwicklung Infrastrukturen nur unter dem Aspekt der ‘Versicherheitlichung’ oder ‘Weaponization’ zu betrachten. Auch Erwägungen der kapitalistischen Inwertsetzung, der sozialen Integration, demokratischen Partizipation oder ökologischen Modernisierung spielen in der Gestaltung globalisierungs-relevanter Infrastrukturen eine wichtige Rolle.
Diese Ausgabe von POLITIKUM diskutiert: Wie schreitet der Aufbau grenzüberschreitender Infrastrukturen voran? Nehmen die Konflikte um ihre Organisation und Kontrolle zu? Wie positioniert sich die EU? Verfolgt sie eine eigenständige Strategie? Gibt es auch neue Chancen der Kooperation? Wenn ja, in welchen Bereichen und unter welchen Bedingungen?
İçerik tablosu
Lebensadern der Globalisierung
Joscha Abels:
Globaler Wettbewerb um Infrastrukturen: Eine neue Form der Geopolitik?
Carola Westermeier:
Von globalisierter Vernetzung zu neuer Fragmentierung?
Finanzinfrastrukturen als geopolitische Spannungs- und Kriegsfelder
Britta Kuhn:
Chinas dynamisches Jahrhundertprojekt. Ein aktueller Blick auf die Belt and Road Initiative
Galileo & Co. Zur Rolle der Europäischen Union als infrastrukturpolitischer Akteur
Interview mit Kai-Uwe Schrogl
Tobias Haas/Felix Syrovatka:
Von Kohle und Öl über Erdgas zum Wasserstoff? Globale Strukturen der Energieversorgung
Andreas Baur:
Grenzenlosigkeit in Grenzen. Zur Politik globaler Cloud-Infrastrukturen
Johannes Varwick:
Nur Versicherheitlichung? Militär und ‘Global Commons’
Debatte
Karl Aiginger:
Globalisierung war das Zauberwort von gestern. Für eine neue globale Infrastruktur
Stormy-Annika Mildner, Eva Mattes, Marlies Murray:
Europäische strategische Souveränität und Transatlantische Digital-Partnerschaft – ein Oxymoron?
Forum
Karl-Martin Hentschel:
Über den Tellerrand schauen beim Wahlrecht. Personenwahl in Mehrpersonenwahlkreisen mit Verhältnisausgleich
Yazar hakkında
Dr. des. Joscha Abels
ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen. Er forscht zur politischen Ökonomie der EU und zu Infrastrukturpolitik.
Karl Aiginger ist Direktor der Europaplattform Wien Brüssel, eines interdisziplinären Thinktanks, Wirtschaftsuniversität Wien.
Andreas Baur
forscht und arbeitet am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen und promoviert zu den Politiken der Cloud an der Universiteit van Amsterdam.
Dr. Tobias Haas
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam im Projekt ‘Sozialer Strukturwandel und responsive Politikberatung in der Lausitz’.
Karl-Martin Hentschel
ist im Bundesvorstand des Vereins ‘Mehr Demokratie e. V.’. Er war von 1996 bis 2009 Abgeordneter im Landtag in Schleswig-Holstein und Fraktionsvorsitzender während der rot-grünen Simonis-Regierung.
Prof. Dr. Britta Kuhn
lehrt Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt International Economics an der Wiesbaden Business School der Hochschule Rhein Main.
Eva Mattes
ist Program Officer am Aspen Institut Deutschland und verantwortet das Digital Program des Instituts.
Dr. Stormy-Annika Mildner
ist Direktorin des Aspen Institute Deutschland und Adjunct Lecturer an der Hertie School.
Marlies Murray
ist Program Assistant am Aspen Institute Deutschland und studiert Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
Kai-Uwe Schrogl
ist verantwortlich für die politischen Beziehungen der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) in Paris und Honorarprofessor für internationale Technologiepolitik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen.
Dr. Felix Syrovatka
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin.
Prof. Dr. Johannes Varwick
lehrt Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Dr. Carola Westermeier
vertritt die Professur für international Beziehungen und internationale politische Ökonomie an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie ist zudem Co-Leiterin eines Forschungsprojekts zu Finanzinfrastrukturen und geoökonomische Sicherheit an der Justus-Liebig-Universität Gießen.