Im Nirgendwo beginnt die Desertion: Fatzer scheißt auf die Ordnung der Welt und seine Kameraden machen es ihm zunächst nach. Brechts Fragment, das vom Untergang des Egoisten Johann Fatzer berichtet, untersucht in immer neuen Ansätzen auch das Verhältnis von (Un-)Ordnung und (Ent-)Ortung sowie ihre Potentialität für die Verhandlung des Kollektiven. So steht der vermeintlichen Offenheit der Straße als eines Orts des Kollektivs und der Menge in Fatzers Rundgang durch Mülheim, mit dem er die Stadt vermisst, die Beengtheit der Kellerwohnung gegenüber, in der die Deserteure auf die Revolution warten und sich an die Gurgel gehen.
‘Die Erkenntnis kann an einem anderen Ort gebraucht werden, als wo sie gefunden wurde.’ – diese Notiz aus dem Fatzer-Fragment nahm das Symposion der Zweiten Fatzer Tage im Juni 2012 als Einladung, gemeinsam der Verbindung von Räumen, Orten und Kollektiven nachzuforschen. Denn die Frage nach dem Raum und dem Ort ist im Fatzer-Fragment zugleich eine Frage nach dem Kollektiv, seinem Auftritt ebenso wie seiner Abwesenheit oder seiner Konstitution. Brechts Notiz folgend wurde zudem nach den Möglichkeitsräumen gefragt, die sich an der Schnittstelle von gegenwärtigen Aufführungsformen und Brechts vielleicht radikalstem Experiment öffnen. Wo und wie können die Widersprüche, Paradoxien und Spannungen, die Brecht in Fatzer festhält, heute gebraucht und produktiv gemacht werden? Welche Perspektive erlauben neuere theoretische wie praktische Ansätze für die Beschäftigung mit Brechts Text und welche Perspektiven eröffnet dieser für die Gegenwart?
Der zweite Band der Mülheimer Fatzerbücher – Räume, Orte, Kollektive – gibt das Symposion der Fatzer Tage 2012 sowie weitergehende Überlegungen wieder und dokumentiert ausführlich die während des Festivals gezeigten Aufführungen: Kill Your Darlings! Streets of Berladelphia von René Pollesch, die norwegische Fatzer-Inszenierung von Tore Vagn Lid und Wessen Stadt ist die Stadt? Ein Aufstand von LIGNA.
Yazar hakkında
Matthias Naumann (M.A.) ist freier Theaterwissenschaftler, Autor, Dramaturg und Übersetzer. Er forscht und veröffentlicht in den Bereichen Theater, Film und Jüdische Studien. Er studierte Theater, Film und Medienwissenschaft, Germanistik und Judaistik in Frankfurt am Main, Tel Aviv und Paris. Er ist Mitgründer der Künstlergruppe manche(r)art. Er war, gemeinsam mit Stefanie Plappert, für die wissenschaftliche Konzeption und Realisierung des im November 2008 eröffneten Norbert Wollheim Memorials in Frankfurt am Main verantwortlich. Übersetzer israelischer Theaterstücke ins Deutsche, u.a. von Hanoch Levin, Yonatan Levy und Maya Arad; arbeitete als freier Dramaturg und Kurator u.a. für Tmuna-Theater, Tel Aviv, Deutsches Theater Göttingen, en/COUNTERs in and between Israel and Germany (Center for Contemporary Art, Tel Aviv/ Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt am Main); seit 2013 Kurator für die Mülheimer Fatzer Tage am Ringlokschuppen Ruhr. Seine Stücke waren zu den Autorentheatertagen 2013 am Deutschen Theater Berlin eingeladen und für den Autorenpreis des Heidelberger Stückemarkts 2014 nominiert. Seit 2014 arbeitet er als Autor mit dem Theaterkollektiv Futur II Konjunktiv.
Michael Wehren ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig, wo er Theaterwissenschaft und Philosophie studierte und gegenwärtig über die Lehrstücke und das Fatzer-Fragment Bertolt Brechts sowie ihre heutige Produktivität promoviert. Er ist Mitglied der Theatergruppe friendly fire. Wehren veröffentlichte und hielt Vorträge u.a. zu Heiner Müller, Bertolt Brecht und heutigen Lesarten ihrer Arbeiten, Körperpolitik, Tanz und Chor. Regelmäßig schreibt er für die Zeitschrift Testcard. Beiträge zur Popgeschichte (Ventil). Er war zudem am D21 Kunstraum Leipzig kuratorisch tätig und organisierte das wissenschaftliche Symposion im Rahmen der Zweiten Mülheimer Fatzer Tage.