«Seien wir realistisch», war im Mai ’68 auf Pariser Hauswänden zu lesen, «fordern wir das Unmögliche!» An Paradoxien dieses Typs hat die Gegenwart allen Geschmack verloren. Auch wenn ihr die Zukunft am Herzen liegt, begegnet sie dem Unmöglichen mit kalter Schulter. Ihr großes Thema sind die Möglichkeiten, sind zukünftige Chancen und sich bietende Gelegenheiten, die jetzt zu ergreifen sind – politisch, ökonomisch und sozial. Wie aus Optionen kraft raffinierter Mathematik berechenbare Risiken werden, lautet die Grundfrage. Und an sie schließt unter Umständen ein nächstes Problem an: Was zu tun ist, wenn sich die Berechnungen als irrig erweisen. Dann kehren die kalkulierten Risiken nämlich in Gestalt unwägbarer Gefahren zurück, beispielsweise als radioaktive Strahlung oder ökonomische Krise, die ganze Volkswirtschaften mit bankrotten Banken, insolventen Versicherungen und ruinierten Pensionsfonds konfrontiert. Angesichts solcher Ereignisse investiert man nicht ins Unmögliche. Stattdessen interessiert die Unerbittlichkeit der Tatsachen. Das Reale macht sich als die Differenz zwischen Erwartung und Erfahrung geltend, als der Widerstand, der alle Prognosen blamiert.
In diesen Situationen schlägt die Stunde des Neorealismus. Gefordert wird der ernüchterte Blick, die illusionslose Anerkennung des Faktischen. «Die Sachen selbst» werden auf die Bühne gebeten. Im Namen eines Absolutismus der Wirklichkeit soll das Gerede ein Ende haben und alles Moralisieren aufhören. Subjektivität und mit ihr das Seelische überhaupt gerät unter Verdacht. Die trockene Prosa von Protokollsätzen wird charmant: «Hier, jetzt, grün.» Kein Wunder, wenn «Alternativlosigkeit» zum Schlüsselwort avanciert, das Sachverstand anzeigt und Beschlüsse mit kollektiver Verbindlichkeit versorgt, die im Grunde doch keine Entscheidungen sein können, weil sie ihrem Anspruch nach nur exekutieren, was die eiserne Logik der jeweiligen Sache fordert. Wie sagt die Kanzlerin? «Eine gut geführte Akte ist ein Wert an sich selbst.»
Freilich hatte der Realismus in den Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaften der jüngeren und jüngsten Vergangenheit einen schlechten Leumund. Zwar hatte seine Exzellenz, Herr Dr. Lacan, strikt und früh zwischen dem «Symbolischen», «Imaginären» und «Realen» unterschieden, zugleich aber wissen lassen, das Reale bezeichne in seinem triadischen Register das schlechthin Unrepräsentierbare. So konnte die Welt des Wirklichen im entgrenzten Kulturalismus der zurückliegenden vier Dekaden nicht sein, «was der Fall ist». Wer sich nicht der Naivität wollte bezichtigen lassen, hatte mit der Konstruiertheit der Wirklichkeit auch die Kontingenz ihrer Konstruktion zu betonen, womit sich der Sozialkonstruktivismus einen explizit historischen Sinn verschaffte. Normative Wissenschafts- oder Erkenntnistheorie ließ sich so nicht mehr praktizieren. An ihre Stelle trat eine konstruktivistische Sozialgeschichte des Wissens, die viele Gesichter hatte und ebenso viele Wirklichkeiten entdeckte.
Einen schmerzhaften Stachel im Fleisch des sozialkonstruktivistischen Konsensus platzierte Ian Hacking, kanadischer Wissenschaftsphilosoph am Collège de France, mit einer ironischen Bemerkung. Er vermutete sinngemäß, dass die Bereitschaft, eine physikalische Größe wie die Erdanziehungskraft «g» bloß für eine soziale Konstruktion zu halten, proportional zur Flughöhe abnehme. Tatsächlich mehren sich seither die Anzeichen für eine Trendumkehr. Es mag lediglich modischer Überdruss, vielleicht aber auch eine ernster zu nehmende Skepsis sein, auf die der sozialkonstruktivistische mainstream mittlerweile in den Kulturwissenschaften stößt. So empfiehlt es sich, erste Probebohrungen an Ortschaften vorzunehmen, die in der Kunst wie in der politischen Theorie den Kontakt zum Realismus immer gehalten hatten. Es scheint heute nicht mehr unmöglich zu sein, neuen Realismus zu fordern.
Про автора
CLEMENS ALBRECHT geb. 1959, ist Professor für Soziologie an der Universität Koblenz/Landau. 1999 ist erschienen Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule (Hg.u.a.).
MARTIN BAUER geb. 1956, ist Redakteur der Zeitschrift «Mittelweg 36» des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Manfred Bauschulte arbeitet als Autor und Übersetzer in Köln. 2012 ist erschienen Über das Ende der neolithischen Revolution. Gespräche und Versuche mit Klaus Heinrich.
HORST BREDEKAMP geb. 1947, ist Professor für Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin. 2012 ist erschienen Leibniz und die Revolution der Gartenkunst.
GUSTAV FALKE geb. 1958, ist Philosoph und Musikwissenschaftler. 2005 ist erschienen Mozart oder Über das Schöne.
LUCA GIULIANI geb. 1950, ist Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin.
JENS HACKE geb. 1973, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Zurzeit schreibt er an einem Buch über die Krise des Liberalismus.
KLAUS HEINRICH geb. 1927, ist Professor emeritus für Religionswissenschaft an der FU Berlin. Zuletzt ist erschienen Floß der Medusa (2013).
HERMANN LÜBBE geb. 1926, ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Zürich. 2012 erschien eine Neuauflage von Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie.
FLORIAN MEINEL geb. 1981, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. 2011 erschien Der Jurist in der industriellen Gesellschaft. Ernst Forsthoff und seine Zeit.
ROMAN KÖSTER geb. 1975, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Bundeswehr München. 2011 erschien Die Wissenschaft der Außenseiter. Die Krise der Nationalökonomie in der Weimarer Republik.
BURKHARD MÜLLER geb. 1959, ist Dozent für Latein an der TU Chemnitz und schreibt als Autor für die Süddeutsche Zeitung. Zuletzt erschien B – eine deutsche Reise (2010).
LUTZ RAPHAEL geb. 1955, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier. 2011 erschien Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation.
HEINZ SCHLAFFER geb. 1939, ist Professor emeritus für Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart. Zuletzt erschien Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik (2012).
MARTIN WARNKE geb. 1937, ist Professor emeritus für Kunstgeschichte an der Universität Hamburg. 2006 erschien eine Neuauflage von Peter Paul Rubens. Leben und Werk.