„Wutbürger“ war das Wort des Jahres 2010. „Erfunden“ hatte es der Spiegel-Redakteur Dirk Kurbjuweit. Bezogen auf Stuttgart 21 und die Sarrazin-Debatte schrieb Kurbjuweit im Oktober 2010 in einem Spiegel-Essay: „Eine Gestalt macht sich wichtig in der deutschen Gesellschaft, das ist der Wutbürger. Er bricht mit der bürgerlichen Tradition, dass zur politischen Mitte auch eine innere Mitte gehört, also Gelassenheit, Contenance. Der Wutbürger buht, schreit, hasst. Er ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört über die Politiker.“ Die Gesellschaft für deutsche Sprache sah das Wort als Ausdruck für die Empörung der Bevölkerung, „dass politische Entscheidungen über ihren Kopf getroffen werden“.
Mittlerweile gehört der Begriff zur politischen und medialen Diskussion in Deutschland. Doch hat man mehr und anderes im Sinn, wenn vom „Wutbürger“ gesprochen wird. Einerseits hat sich seine Bedeutung ausgeweitet, andererseits verengt. Ausgeweitet hat er sich in drei Richtungen:
1. Der Wutbürger richtet seine Empörung nicht mehr nur gegen Politiker, sondern gegen alle sogenannte Eliten in der Gesellschaft: neben Politikern sind dies u. a. Medienvertreter und Wissenschaftler. Seine Wut richtet sich aber auch gegen Minderheiten wie Migranten, insbesondere Moslems, Behinderte, Homosexuelle usw.
2. Der „Wutbürger“ repräsentiert die Spitze eines Prozesses, der als „zunehmende Erhitzung des emotionalen Klimas“ (Dorothea Franck) beschrieben werden kann und mit dem ein Verfall kooperativer Umgangsformen, Wellen der Feindseligkeit, der Aufhetzung, des Hasses sowie eine Verrohung der Sprache einhergehen.
3. Mit dem Wutbürger werden auch diffuse Ängste und Sorgen, Gefühle des Übergangen- und Abgehängtseins verbunden.
Verengt hat sich der Begriff, in dem er heute fast nur noch im Zusammenhang mit rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien wie Pegida und Af D verwendet wird.
Зміст
Wutbürger
Nils C. Bandelow und Colette S. Vogeler
Warum eskalieren Protestbewegungen?
Beate Küpper
Wut, Verachtung, Abwertung
Wutbürger und ihre Angst vor Statusverlust
Interview mit Robert Feustel
Die Sprache des „besorgten Bürgers“
Alexander Häusler
Die Af D: Eine Partei des rechten Wutbürgertums
Carsten Koschmieder
Wut oder Angst? Warum die Af D gewählt wird
Pro & Contra
Bringen Wutbürger die Demokratie in Gefahr?
Die Gefährdung ist nicht mehr zu leugnen
von Hajo Funke
Die Selbstheilungskräfte der Demokratie
von Werner J. Patzelt
Forum
Anja Besand
Therapeutische Zuwendung oder strategische Abwendung?
Rechtspopulismus und politische Bildung
Eckhard Jesse
Der liberale Rechtsstaat hat gesiegt. Kein Verbot der rechtsextremistischen NPD
Rezensionen + Literaturtipps
Про автора
Prof. Dr. Nils C. Bandelow
ist Professor für Politikwissenschaft an der TU Braunschweig.
Prof. Dr. Anja Besand
ist Professorin für die Didaktik der politischen Bildung an der Technischen Universität Dresden.
Dr. Robert Feustel
ist Mitautor des „Wörterbuch des besorgten Bürgers“.
Prof. Dr. Hajo Funke
ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin.
Alexander Häusler
ist Sozialwissenschaftler und Mitarbeiter des Forschungsschwerpunktes Rechtsextremismus/Neonazismus (www.forena.de) der Hochschule Düsseldorf.
Prof. Dr. Eckhard Jesse
ist emeritierter Politikwissenschaftler an der TU Chemnitz und Herausgeber des Jahrbuches Extremismus & Demokratie seit 1989. Er war Sachverständiger beim Verbotsprozess gegen die NPD im März 2016.
Dr. Carsten Koschmieder
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
Prof. Dr. Beate Küpper,
Dipl.-Psych. ist Professorin für Soziale Arbeit in Gruppen und Konfliktsituationen an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach. Sie ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit“ und Koautorin der FES-Mitte-Studie 2016.
Prof. Dr. Werner J. Patzelt
ist Professor für Politikwissenschaft, Lehrstuhl für Politische Systeme und Systemvergleich, an der TU Dresden.
Dr. Colette S. Vogeler
ist Post-Doc im Fach Politikwissenschaft an der TU Braunschweig.