Was tun Menschen, wenn sie Literatur interpretieren? Welche Textbestandteile wählen sie aus, welches Wissen schreiben sie Texten als Bedeutung zu, welche Art des Bedeutens (Wörtlichkeit, Symbolik, Allegorik usw.) unterstellen sie? Und was tun Menschen, indem sie Literatur interpretieren? Legen sie ihr Textverstehen dar? Erklären sie Textbedeutungen? Präsentieren sie eine zur Interpretation verwendete Theorie? Sprechen sie indirekte Wertungen oder Appelle aus? Stellen sie sich als Vertreter einer Interpretations-Schule dar? – Welche dieser Funktionen kann wissenschaftliches Interpretieren haben, welche darf es haben? Erhebt es den Anspruch, wahre Aussagen über seinen Gegenstand zu erzeugen? Lässt es sich an diesem Anspruch kritisch messen?
Solche Fragen werden im ersten, theoretischen Kapitel der Studie erörtert. Das dabei entwickelte begriffliche Instrumentarium ermöglicht es, Interpretationen unterschiedlicher Provenienz vorurteilsfrei, aber kritisch zu analysieren. Das zweite Kapitel ist die Probe aufs Exempel: Das Instrumentarium wird angewendet auf sechs Interpretationen von Goethes Roman »Die Wahlverwandtschaften« (1809). Die Reihe beginnt bei Walter Benjamins berühmtem Essay von 1922 und reicht bis zu neueren Arbeiten aus dem Umfeld der Dekonstruktion. Den Schluss der Untersuchung bildet ein Vademecum der Interpretationskritik: ‘Maximen für Reflexionen’.