„Mnemosyne, die griechische Göttin der Erinnerung, war auch die Mutter der neun Musen. Sie fordert mich auf, meine Erinnerungen nicht kunstlos hinzuwerfen. Sagt Volker Ebersbach. Und genau in diesem Sinne hat er seine Erinnerungen erzählt – kunstvoll und spannend, dass sie einen Sog erzeugen, einen Sog zum Lesen dieses Lebens des Menschenkindes vom Jahrgang 1942, des dritten und vorvorvorletzten Kriegsjahrgangs. Ebersbach erinnert sich, dass seine Mutter ihm erzählte, er habe sie, gleich nachdem er auf die Welt gekommen war, böse und vorwurfsvoll angeschaut. „Gewiss habe ich damit nicht sie gemeint, und von der Welt wusste ich ja noch nichts. Aber vielleicht deutete sie in der Besorgnis darüber, dass sie in solch einer Zeit, in solch einer Welt einen Jungen geboren hatte, meinen Blick so. Ich stelle mir vor, im Jenseits hätte mir der Herrgott die Welt des Jahres 1942 gezeigt und mich gefragte: „Möchtest du?“ – „Nein, , danke!“ wäre meine Antwort gewesen.“
Im Herbst dieses Jahres wird dieses Leben achtzig Jahre andauern – Stoff für viele Erzählungen und Erinnerungen, die ungewöhnlich weit zurückreichen – noch bevor zuerst der Ami und dann der Russe kam.
Ebersbach erinnert sich an das zunehmende Gefühl, zu den Verlierern zu gehören, an Sprachprobleme und kindliche Perspektivwechsel, an den kältesten Winter von 1947 und Hasenbrot, an Dampflokomotiven und an eine Weihnachtsgeschichte, an die dicke Ella, die später Schweinezüchterin in der LPG wurde, an den Heiligen Sankt Nikolai und Besuche in der sowjetischen Kaserne, wo seine Tante bei den „Russens“ saubermachte, an die Hitze, Berlin und die Währungsreform und seinen zweiten Schultag und seine damalige Einsamkeit, an die Freundschaft mit dem Nachbarsmädchen Bärbel und an beider Bewunderung für Hochzeiten, an Sonntagsausflüge mit den Eltern, an Fingerreisen im Schulatlas und an das Orgelspiel seiner Schwester, das ihn bezauberte, an Till Eulenspiegel, an einen Schauprozess von Hilde Benjamin, an Theaterbesuche und an die Geborgenheit im Verborgenen, an Maikäfer, an Umbenennungen und an sowjetische Kurzfilme, an einige gute Lehrer, an politische Schwierigkeiten, studieren zu dürfen, an Kalten Krieg im Radio (beide Seiten), an Nietzsche und Gottfried Benn sowie an seine Spanischstunden und sein literarisches Debüt und an Ähnlichkeiten der Untergänge des Inka-Reiches und der Sowjetunion, an eine Verhaftung durch den polnischen Geheimdienst im Sommer 1989 und an die letzte Fahrt der „Württemberg“ – ein Gleichnis.
Table of Content
Vorbetrachtungen
Geschichte
Als ich geboren wurde
Alete
Wie ich den Zweiten Weltkrieg verlor
Schwarze Augenhöhlen
Ein Invalide
Sprachprobleme
Wechsel der Perspektive
Das Gelobte Land
Sonntagmorgen
Zauberkräftige Herzen
Beinahe
Hasenbrot
Die Eisenbahn
Zeit der Eisblumen
Weihnachtsgeschichte
Die Schlechtigkeit der Welt
Die Stadtmaus bei den Feldmäusen
Mutter in Stiefeln
Nikolai
Der zweite Schultag
Der Atlas
Eine Erweckung
Till Eulenspiegel
Hofidylle und Treppenunhold
Die Leipziger Straße
Allein im Baum
Maikäfer
Umbenennungen
Brausende Ferne
Biologie I
Völkerfamilie
Staatsbürgerkunde
Ein gewisser Kunde
Sein Lob war: Guter Rat
Reizgasattacke
Studienberatung
Schicksal einer Gymnasialbibliothek
Hotel Goldene Kugel
Mythisches im Schulhort
Deutschlandfunk
Nietzsche-Kolloqium
An ihn erinnere ich mich gern
Eine Beschwerde
Wie meine Frau und unser Sohn magyarisiert werden sollten
Ein gewisser Kollege
Schlagfertig
Der Koloss
Der Mars vor der Haustür
Der Schrottschein
Der liebe Gott sieht alles
Zeitungen
Conquistadoren im Leipziger Auwald
Orakel und Menetekel
Das elfte Loch im Schlauchboot
Beinahe reingefallen
Die letzte Fahrt der „Württemberg“
Schlussgedanke
Glossar
About the author
Volker Ebersbach ist am 6. September 1942 in Bernburg/Saale geboren und dort aufgewachsen. Nach Abitur und Schlosserlehre studierte er von 1961 bis 1966 Klassische Philologie und Germanistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 1967 promovierte er über den römischen Satiriker Titus Petronius. Danach lehrte er Deutsch als Fremdsprache ab 1967 in Leipzig, 1968 in Bagdad, 1971 bis 1974 an der Universität Budapest, wo er auch mit seiner Familie lebte.
Seit 1976 ist er freier Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber. Er schreibt Erzählungen und Romane, Kurzprosa, Gedichte, Essays, Kinderbücher, Biografien und Anekdoten. Er übersetzte aus dem Lateinischen ausgewählte Werke von Catull, Vergil, Ovid, Petronius, das Waltharilied, Janus Pannonius und Jan Kochanowski. Einzelne Werke wurden ins Slowenische und Koreanische übersetzt.
Von 1997 bis 2002 war er Stadtschreiber in Bernburg. Danach lehrte er bis 2004 an der Universität Leipzig.
Lion-Feuchtwanger-Preis, 1985
Stipendiat des Künstlerhauses Wiepersdorf und des Stuttgarter Schriftstellerhauses, 1993