Wie war er, dieser Henri Beyle, der sich ab 1817 Stendhal nannte? Eine Ahnung bekommen wir in diesem ebenso umfang- wie materialreichen Essay in dem Kapitel Erste unglückliche Liebe:
Frauen haben Stendhal immer viel bedeutet, wenn nicht alles. Die Liebe behauptet in seinem ganzen Leben ihren Platz, sie ist ihm la seule affaire, nichts außer ihr scheint ihm von Belang. Eine Frau zu verehren, sie zu begehren nimmt einen großen Teil seines Wesens ein. Während der Pubertät ergreift dieses Gefühl heimlich von ihm Besitz. Er schwärmt von der Angebeteten im Stillen, schüchtern und verschwiegen. Als junger Mann geht er von der Anbetung zu stürmischer Eroberung über. Sie gelingt ihm lange nicht. „Anstatt galant zu sein“, bekennt er, „wurde ich bei den Frauen, die ich liebte, leidenschaftlich. Den anderen stand ich, ohne mich rühmen zu wollen, gleichgültig gegenüber, daher auch der geringe Erfolg, das ewige Fiasko.“ Schließlich erfährt er, dass eine gewisse männliche Schwäche am ehesten ein Frauenherz betören kann. Die große, einzige, lange währende Liebe, von der er träumt, die er ersehnt, bleibt ihm versagt.
Die Wurzeln solch einer unerfüllbaren Sehnsucht reichen weit zurück in seine Kindheit: Die Liebe zur Mutter musste er als die erste unglückliche Liebe erfahren. In seiner Erinnerung ist Henriette Gagnon eine reizende, ein wenig füllige, wunderbar frische Frau. Sie bezaubert das Kind mit ihrer flinken, heiteren Art. In dem Haushalt, dem sie vorsteht, erledigt sie, weil ihr die Dienstboten zu langsam sind, beinahe alles selbst. Sie liest Dantes „Göttliche Komödie“ im italienischen Original, sorgt für Geselligkeit im Haus Beyle, gibt gern Soupers und empfängt die vornehmsten Damen der Stadt in einem von Lichtern erstrahlenden Salon. Henri ist sieben Jahre alt, da stirbt sie im dreiunddreißigsten Lebensjahr bei der Geburt ihres vierten Kindes.
Tatsächlich fühlt sich Stendhal ein Leben lang zu schönen Frauen hingezogen, erforscht die menschlichen Seelen, wird ein großen Erzähler und – ein großer Essayist, wie sein 1822 veröffentlichtes Buch „Über die Liebe“ beweist:
Es zehrt von dem Erlebnis einer neuen Liebe und folgt ihrer wechselvollen Geschichte. Ähnlich wie das Reisebuch vereinigt es tagebuchartige Reflexionen, aphoristische Gedankensplitter und kleine pseudosystematische Traktate mit lockeren Plaudereien, deren Reiz lange auf die Entdeckung durch das Publikum warten muss.
Heute aber gilt es als eines der furiosesten und raffiniertesten Bücher über die Liebe.
Table of Content
EIN PAAR FRAGEN ZUVOR
1. Kapitel: VÄTER UND GEGENVÄTER
Janusköpfe
Erste unglückliche Liebe
Standbilder aus Papier
2. Kapitel: EIN PLEBEJER MIT ARISTOKRATISCHEN NEIGUNGEN
Verheißungen der Freiheit
Traumwelten
Mathematik der Gefühle
3. Kapitel: WAISE DER REVOLUTION
Leben in der falschen Zeit?
Der Rationalist und die Leidenschaften
Mars und Venus
4. Kapitel: EIN BEAMTER DES HELDENTUMS
„Le Beylisme“
Die Kunst des Möglichen
Inventur der Siege
5. Kapitel: STURZ NACH INNEN
Flucht in den Süden
Reisend schreiben – schreibend reisen
Ein gescheiterter Liebesroman
6. Kapitel: ROMANTISCHER LIBERALSMUS
Knisternde Salons
Raschelnde Journale
Menti
7. Kapitel: SEILBSTFINDUNG IM ROMAN
Eroberung des Genres
Spaziergänge in der Historie
Sprung in die Meisterschaft
8. Kapitel: AMT OHNE WÜRDE
Juligewitter
Giulia
Allen unbequem
9. Kapitel: EINSAMKEIT UND MEISTERSCHAFT
Ein Torso
Unruhiger Urlaub
Von Waterloo nach Parma
Epilog: DIE UNERMÜDLICHE FEDER, DER UNERMÜDLICHE TOD
About the author
Volker Ebersbach ist am 6. September 1942 in Bernburg/Saale geboren und dort aufgewachsen. Nach Abitur und Schlosserlehre studierte er von 1961 bis 1966 Klassische Philologie und Germanistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 1967 promovierte er über den römischen Satiriker Titus Petronius. Danach lehrte er Deutsch als Fremdsprache ab 1967 in Leipzig, 1968 in Bagdad, 1971 bis 1974 an der Universität Budapest, wo er auch mit seiner Familie lebte.
Seit 1976 ist er freier Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber. Er schreibt Erzählungen und Romane, Kurzprosa, Gedichte, Essays, Kinderbücher, Biografien und Anekdoten. Er übersetzte aus dem Lateinischen ausgewählte Werke von Catull, Vergil, Ovid, Petronius, das Waltharilied, Janus Pannonius und Jan Kochanowski. Einzelne Werke wurden ins Slowenische und Koreanische übersetzt.
Von 1997 bis 2002 war er Stadtschreiber in Bernburg. Danach lehrte er bis 2004 an der Universität Leipzig.