Hier schreibt einer seine Memoiren. Dieser eine ist nicht irgendwer, sondern Tiberius, der zweite römische Kaiser und einer der am längsten allein regierte. Aber jetzt war er nicht mehr in Rom, sondern im fernen Capri – allein, krank und leidend. Und sein Reich ist auch längst nicht mehr das, was es einmal war, sein einstiger Glanz ist am Verlöschen. Die Rechenschaft des Tiberius, der erst mit 56 Jahren Kaiser wurde, fällt traurig, geradezu deprimiert aus:
Mancher, dem es der Mühe wert schien, seinen Lebensbericht zu verfassen, schrieb wie ein Mann, der die Welt und sich selbst durchschaute. Entweder wollte er noch über die eigene Asche hinaus die Welt belügen, oder er kannte sich weniger, als er annahm. Denn wer wirklich die Welt und sich selbst durchschaut hätte, fände keinen Lebensbericht, wie wahr er auch sei, einer Mühe wert. So sicher, wie er wüsste, was er sagte und wovon er spräche, müsste er auch erwarten, dass ihm andere entweder den Glauben oder ihr Einverständnis verweigern. Wer also hätte von ihm noch etwas zu erfahren? Nicht einmal die Wahrheit wäre denen willkommen, die ihn überleben. Solange das Herz eines Menschen schlägt, folgt er Täuschungen, jeder Herzschlag nährt sie, denn keine Kraft, die sich ihrer selbst bewusst wird, will vergebens gewirkt haben. So weigern wir Menschen uns, blindlings dahinzuleben wie Tiere, und häufen, in der Hoffnung, den unsterblichen Göttern ähnlich zu werden, zu den Jahren, die uns vom Tod noch trennen, ein Wissen, das uns von seiner Unvermeidlichkeit ablenken soll. Zu spät begreifen wir, dass die Jahre schwinden und mit sich den Wert dieses Wissens dahinraffen, bis nur noch eins bleibt, das Wissen um den Tod. Mit Reichtümern verhält es sich ebenso wie mit dem Wissen, das ich nur zuerst nenne, weil es mir früh am Herzen lag. Und ich gehörte zu den wenigen, denen Macht dasselbe bedeutete, weil ich ihr immer nahestand. Doch als ich sie zu fassen bekam, war ich bereits so reich an Wissen, an Gütern und an Jahren, dass ich auch sie nur noch gering schätzen konnte.
Die einstige Residenz des Tiberius auf Capri, die Villa Jovis, ist als Ruine erhalten. Und vielleicht noch interessant: In der Ära des Tiberius löste die Kreuzigung Jesu im Jahr 30, der von Pontius Pilatus als Aufrührer hingerichtet wurde, weder besondere Aufmerksamkeit in Rom noch irgendeinen größeren Aufstand aus. Judäa galt damals als relativ ruhige Region. Auch Tacitus erwähnt in seiner Schilderung der Herrschaft des Tiberius Jesus mit keinem Wort.
Table of Content
ERZÄHLERISCHE STECKBRIEFE
PROOEMIUM
ERSTES BUCH
I. LIVIA MATER
II. VALERIA VIRGO
III. PIETAS IMPERATRIX
IV. VIPSANIA CONIUNX
V. JULIA ADULTERA
VI. MINERVA SAPIENS
ZWEITES BUCH
VII. BELLONA CRUENTA
VIII. IULIA AUGUSTA
IX. VENUS VARIA
X. ROMA LUPA
XI. AMICITIA MENDAX
XII. SOLITUDO BLANDISSIMA
NACHSÄTZE
ZEITTAFEL
About the author
Volker Ebersbach ist am 6. September 1942 in Bernburg/Saale geboren und dort aufgewachsen. Nach Abitur und Schlosserlehre studierte er von 1961 bis 1966 Klassische Philologie und Germanistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 1967 promovierte er über den römischen Satiriker Titus Petronius. Danach lehrte er Deutsch als Fremdsprache ab 1967 in Leipzig, 1968 in Bagdad, 1971 bis 1974 an der Universität Budapest, wo er auch mit seiner Familie lebte.
Seit 1976 ist er freier Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber. Er schreibt Erzählungen und Romane, Kurzprosa, Gedichte, Essays, Kinderbücher, Biografien und Anekdoten. Er übersetzte aus dem Lateinischen ausgewählte Werke von Catull, Vergil, Ovid, Petronius, das Waltharilied, Janus Pannonius und Jan Kochanowski. Einzelne Werke wurden ins Slowenische und Koreanische übersetzt.
Von 1997 bis 2002 war er Stadtschreiber in Bernburg. Danach lehrte er bis 2004 an der Universität Leipzig.