Viele Besucher assoziieren mit dem Inneren der italienischen Insel Sardinien und vor allem mit dem Bergland der Barbagia, dem Umland von Nuoro, bis heute das Banditentum der Vergangenheit und fürchten deshalb die Dörfer dieser Gegend. Hier, im Herzen der Supramonte-Berge, liegt das wohl berühmteste ‘Banditendorf’ der Insel: Orgosolo.Heute erzählen jedoch nur noch Wandmalereien, die so genannten Murales, von der aufregenden, oft gewalttätigen Geschichte des Dorfes. Franceso del Casino initiierte Ende der 60er Jahre das erste Mural als Schulprojekt und wurde später zum aktivsten Wandkünstler Orgosolos.Stefania Böhm analysiert in ihrer vorliegenden Studie die Murales von Orgosolo aus kunstgeschichtlicher Sicht. Damit bietet sie erstmals einen ausführlichen Überblick über Entstehung, Geschichte und den aktuellen Bestand der Murales, die den Großteil der Fassaden im alten Dorfkern Orgosolos bedecken.Böhm verortet die Arbeiten mit Blick auf die Geschichte des Mediums Wandmalerei zwischen der Tradition des Muralismo – politisch motivierter Wandmalerei, deren Vorbild die Monumentalmalereien in Mexiko sind –, politischer Kunst der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts und Graffiti. Die kunstgeschichtliche Untersuchung zeigt, dass die Murales anfangs eindeutig politisch motivierte Wandbilder waren, bei denen die Form zugunsten kritischer politischer Inhalte zurücktritt. Im Laufe der Zeit kam es jedoch zu einem Funktionswandel: Trugen die Bilder einst die Brisanz einer Wandzeitung und dienten als öffentliches Kommunikationsmittel, so sind sie im Laufe der Jahre zu Zeitdokumenten geworden, die das Erbe einer politisch und kulturell aktiven Generation sichtbar machen.
Sobre el autor
Stefania Böhm studierte Kulturwissenschaften mit ästhetischer Kommunikation mit den Schwerpunkten Kunst und Soziologie an der Universität Hildesheim. Im Moment lebt und arbeitet sie in Italien.