Wenn die PISA-Studie wieder einmal mit dem Ergebnis Schlagzeilen macht, dass Kinder immer weniger lesen können, ist das Geschrei groß. Man könnte beinahe vergessen, was die Gemüter heutzutage doch offenbar viel mehr erschreckt: Leser, die nicht das Richtige lesen oder doch an Bücher geraten, die sie falsch verstehen könnten.
In einer Zeit, in der Autoren unberechenbare Leser fast so sehr fürchten wie Redaktionen und Verlage jedes verfängliche Wort und sogar über Beipackzettel für Klassiker nachdenken, die man nicht einfach umschreiben kann, muss die ketzerische Frage gestellt werden: Wie konnte man je darauf kommen, dass ausgerechnet Lesenkönnen zum Ideal des mündigen Bürgers gehört, wenn Bücher so gefährlich sind, dass sie sogar zum Risiko für die Demokratie werden können? Warum genau hat unsere Kultur so großen Wert darauf legt, dass Kinder überhaupt lesen lernen?
Genau das fragt die Philosophin Bettina Stangneth und gibt eine überraschende Antwort: Wir sind nicht ehrlich zueinander, wenn wir vom Lesen sprechen. Statt vor falschen Büchern zu warnen, sollten wir davon erzählen, was Lesen wirklich ist und wie man jedes Buch mit Gewinn lesen kann. Nämlich nicht eingeschüchtert. Sondern vor allem habgierig — wie die Philosophen.
Circa l’autore
Bettina Stangneth, geboren 1966, ist unabhängige Philosophin. Sie studierte in Hamburg Philosophie und promovierte über Immanuel Kant und das Radikal Böse. Für ihr Buch «Eichmann vor Jerusalem» erhielt sie 2011 den NDR-Kultur-Sachbuch-Preis; die «New York Times» zählte es zu den besten Büchern des Jahres. Bei Rowohlt erschienen zuletzt ihre hochgelobten Essays «Böses Denken» (2015), «Lügen lesen» (2017) und «Hässliches Sehen» (2019) sowie die Bände «Sexkultur» (2021) und «Überforderung» (2022). Stangneth erhielt 2022 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis.